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Mikrokosmos Hauptbahnhof

Der Hauptbahnhof Zürich ist mehr als nur eine Haltestelle auf dem Weg zur Arbeit. Mit seinen 130 Geschäften, 35 Restaurants und Imbissbuden, einem Markt, einer Kirche, einem Naturpark und einer eigenen Bahnhofspolizei gleicht er einer kleinen Stadt, die auch Liechtensteiner und Werdenberger täglich besuchen.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr bei Gleis 17 scheinen über das Zifferblatt zu schweben. Es ist halb fünf Uhr morgens. Auf dem Perron schläft die junge Frau mit dem iPod und der Red-Bull-Dose fast im Stehen ein. Sie wartet auf die erste S-Bahn nach Baden-Brugg und merkt gar nicht, dass sie heute Teil des grandiosen Spektakels ist, das sich jeden Werktag aufs Neue abspielt. Schon bald wird man nämlich eine Völkerwanderung gigantischen Ausmasses beobachten können: Über 400 000 Menschen werden durch Passagen strömen, Treppen besteigen, die Hallen durchqueren und hier eine kleine, dort eine grosse Herde formen. Ein chaotischer Tanz, choreografiert vom Fahrplan der SBB und dirigiert durch eine Frauenstimme, die aus Lautsprechern ertönt.
Die kleine Bahnhofstadt inmitten von Zürich ist jedoch nicht nur Anlaufstelle für Pendler, Zugreisende und Touristen, sondern auch Arbeitsort. Rund 1800 Personen beschäftigen die SBB am Hauptbahnhof ? Lokführer, Putzkräfte, Gepäcklogistiker etc. Hinzu kommen noch insgesamt 900 Personen, die in den Geschäften und Restaurants angestellt sind. Sie alle verdienen am Bahnhof ihr tägliches Brot ? die meisten davon in Schichtarbeit.

Das Herz eines Bahnhofs

Herz der Bahnhofstadt ist das Zentralstellwerk. Es versteckt sich im sechsstöckigen Betongebäude, das am Ende von Perron 51 am Gleisfeld steht. Vom Fenster aus hat man eine tolle Aussicht auf die Gleise. Doch die Mitarbeiter im Stellwerk haben herzlich wenig von dieser schönen Aussicht ? ihr Blick gilt der grossen grünen Tafel an der Wand. Hier sind alle Gleise zu sehen, die sogenannten «Fahrstrassen» für die Züge. Hier werden im wahrsten Sinne des Wortes die Weichen gestellt, damit die Züge pünktlich und sicher in den Bahnhof einfahren. In nicht so ferner Zukunft jedoch wird das Zentralstellwerk am Zürcher Bahnhof ausgedient haben. Ab Mai 2014 soll der HB nämlich von der Betriebszentrale Ost, die sich beim Flughafen Zürich befindet, aus gesteuert werden.

Die kleine Stadt

Von dem ganzen Treiben hinter den Kulissen kriegen die Fahrgäste jedoch nichts mit. Weder die junge Frau auf Gleis 17, die bereits mit der S-Bahn Richtung Baden unterwegs ist, noch die schlafende Rucksacktouristin, die sich in der Haupthalle niedergelassen hat. Die Menschen, die den Bahnhof tagtäglich bevölkern, interessieren sich weniger für das Zentralstellwerk, sondern vielmehr für die Ticketschalter, Reisebüros, Geschäfte und Restaurants ? das «soziale» Herz der Bahnhofstadt. Denn was in der «wirklichen» Stadt oft nicht am Weg liegt, erledigen täglich Tausende von Menschen am Bahnhof ? zeitsparend und quasi im Vorbeigehen. Sie bringen Kleider in die Reinigung, kaufen Blumen, Esswaren, Geschenke, Bücher, Wundsalben oder tun etwas für ihre Gesundheit. Noch rasch eine Auskunft, eine Reise buchen oder ein neuer Haarschnitt ? die passenden Dienstleitungen finden sich gleich um die Ecke.

Faszinierender Mikrokosmos

Der Hauptbahnhof Zürich ist der grösste der Schweiz und mit seinen mehr als 2900 Zugfahrten pro Tag gilt er als einer der meistfrequentierten Bahnhöfe der Welt. Eröffnet vor über 150 Jahren, ist er mittlerweile ein Wahrzeichen der Stadt und Bahnknotenpunkt für Züge aus dem Inland und den angrenzenden Ländern Österreich, Deutschland, Italien und Frankreich. Und so tummeln sich täglich mehre Hundertausend Menschen in der 24 Meter hohen Bahnhofshalle ? Bankdirektoren, Tramper und Studenten. Im Zug mag vielleicht die Zweiklassengesellschaft herrschen, auf dem Perron sind jedoch alle gleich. Eine tolle Welt, doch kaum jemand nimmt sich je die Zeit, diesen faszinierenden Mikrokosmos auf sich wirken zu lassen. Vier von fünf Passanten halten sich weniger als 20 Minuten am Bahnhof auf, 6 Prozent sind nach einer Minute schon weg. Es scheint, als würde diese Stadt ihre Bevölkerung magisch anziehen, nur um sie gleich wieder von sich zu stossen. Schade, denn eine gemütliche Stunde am Hauptbahnhof Zürich hinterlässt einen bleibenden Eindruck.

Quelle: NZZ Folio «HB Zürich», Oktober 2010

 

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