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«Viele sympathisieren mit dem Häuschen»

Kunstprojekt zu Lost Place in Mels

Ein genreübergreifendes Kulturprojekt widmet sich mit einem Buch, Film und Gesprächsrundfahrten dem kleinen zerfallenen Gebäude beim Steinbruch Tiergarten in Mels.
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Das zerfallene Häuschen beim Steinbruch ist ein beliebtes Fotomotiv. (Bild: Ariane Pochon)
Das Projektteam auf dem Areal des zerfallenen Häuschens: Andrea Keller, Ariane Pochon, Gabriella Alvarez-Hummel, Petra Müller, Raphael Zürcher, Melanie Mock und Paolo Monaco. (v. l.) (Bild: Ariane Pochon)

«Kennen Sie das alte Gebäude beim Steinbruch Tiergarten in Mels, das zerfällt, schon seit einer gefühlten Ewigkeit – direkt am Schienenstrang, an der Autobahn?», schrieb Projektinitiantin Andrea Keller in ihrer ersten Anfrage an das Medienhaus. Gemäss offizieller Strassenverkehrszählung fahren dort im Schnitt gut 41 000 Motorfahrzeuge täglich vorbei. Hinzu kommen die Züge. «Und wer das Gebäude einmal gesehen hat, schaut beim nächsten Mal wieder und staunt: Es ist noch immer da!»

Gebäude als Impuls für Projekt
Mit «Oh, Darling, du zerfällst uns sehr» setzt das Studio Narrativ diesem «Lost Place» mit einem Kunst- und Literaturprojekt ein Denkmal. Das Künstlerkollektiv nimmt dieses Haus zum Anlass, um über Zerfall, Zeit und Vergänglichkeit nachzudenken, «auch über uns Menschen und die Natur». Projektinitiantin Andrea Keller hat das Gebäude «seit gefühlt Jahrzehnten im Auge». Sie habe den Eindruck, dass es in ihrer Erinnerung immer schon alt war. Mittlerweile liegt es fast am Boden. «Für mich war schon lange klar, dass ich irgendwann seiner Geschichte auf die Spur kommen möchte.» Auch wollte sie herausfinden, warum sie so stark mit dem Gebäude sympathisiere. «Schnell habe ich gemerkt, dass ich mit dieser wundersamen Zuneigung nicht alleine bin. Viele sympathisieren mit dem Häuschen.» So schwirrte ihr bald einmal die Idee eines Buches im Kopf herum.

2020 nahm Andrea Keller mit der Besitzerfamilie Kontakt auf, der auch der dazugehörige Steinbruch gehört. «Sie waren dem Projekt gegenüber sehr offen», sagt Keller. Wie es der Zufall wollte, feiert der Steinbruch, zu dem das Häuschen gehört, dieses Jahr sein 170. Jubiläum - und er ist auch seit 170 Jahren in den Händen der Familie Ackermann, bei der mittlerweile die 6. Generation am Ruder ist. Abgebaut wird dort der Verrucano – ein Stein, der für die Region von grosser Bedeutung ist und selbst um die 300 bis 250 Millionen Jahre alt. «Der Stein wurde im Projekt immer wichtiger, denn wenn man über Vergänglichkeit nachdenkt, gibt einem ein Millionen Jahre alter Stein eine ganz andere Perspektive.» 

Neuer Blick auf Vergänglichkeit
Nach dieser ersten Kontaktaufnahme suchte Andrea Keller Leute, von denen sie dachte, dass sie zum Projekt passen könnten. So kamen der Grafikdesigner Paolo Monaco, die Szenografin Melanie Mock, der Filmer Raphael Zürcher und die Fotografin Ariane Pochon dazu. «Auf die Autorin Gabriella Alvarez-Hummel bin ich glücklicherweise gestossen, weil sie in Murg ein Atelier hatte.» Mit diesem Team skizzierten sie anschliessend erste grobe Ideen. «Wir wollten mit dem Projekt neue Blicke auf das Thema Zerfall ermöglichen.» Mit den verschiedenen Formaten möchten sie die Menschen dazu bringen, «neu und neugierig» über Vergänglichkeit nachzudenken. Denn das Thema sei etwas, das uns alle verbindet. «Wir alle sind vergänglich und mit Vergänglichkeit konfrontiert.» Besonders in den heutigen unsicheren Zeiten sei es ihr ein Anliegen gewesen, einen kreativen, liebevollen Zugang zu schaffen. «Einen Lost Place zu entdecken, ist irgendwie auch wie eine erwachsene Version des Spielens.»

Buch und Gesprächsrunden
Als zentrales Ergebnis ist ein Buch entstanden, das aus zwei Teilen besteht und das dank zwei Covers und zwei Einstiege von beiden Seiten her gelesen werden kann. Die erste Buchhälfte besteht aus Gedichten, Kurzgeschichten und Märchen, die sich um das Thema Vergänglichkeit und Zerfall drehen. «Manche nahmen konkret das Haus als Ausgangslage, andere interpretierten das Thema freier», sagt Keller. Texte beigesteuert haben mehrere professionelle Autorinnen und Autoren wie Julia Weber, Martina Galluori, Romana Canzoni, Tanja Kummer, Tom Zai und Franziska Hidber, die sonst Krimis schreibt. In der zweiten Buchhälfte sind Interviews abgedruckt, die Andrea Keller, Gabriella Alvarez-Hummel und weitere Schreibende mit verschiedenen Menschen geführt haben. Darunter finden sich Gespräche mit der Besitzerfamilie des Steinbruchs und Häuschens, einem Geologen, einer Philosophin und einer Psychologin. In der Mitte des Buches befindet sich eine Fotoarbeit, die beide Textwelten trennt und gleichzeitig verbindet. Das Buch wird in einer kleinen Auflage herausgegeben, da es sehr aufwändig produziert und von Hand gebunden wurde. «Das Cover aus Karton wie auch der Thermodruck gibt dir das Gefühl, die Struktur von Stein und Holz zu spüren», sagt Andrea Keller. 

Zum Buchprojekt entstand zudem ein Film, der das Häuschen und den Steinbruch in überraschend ästhetischen Aufnahmen erkundet. Schnell wurde klar, dass im Projekt auch noch etwas «Lebendigeres» entstehen soll: der persönliche Austausch zum Beispiel. «Damit holen wir auch das Publikum in die Akteurrolle.» So werden an drei Wochenenden ab Ende April spezielle Gespräche mit 12 freiwilligen Menschen aus Mels möglich sein. Dabei soll in einer 25-minütigen Rundfahrt in einem alten, szenografisch ausgestatteten Mercedes über Zerfall und Vergänglichkeit gesprochen werden. «Bei der Route rauscht man nur kurz auf der Autobahn am Gebäude vorbei, es steht also nicht im Zentrum. Raum erhalten sollen ganz eigene Assoziationen und Gedanken rund ums Thema Vergänglichkeit. 

Explosion im positiven Sinn
«Mich freut ganz besonders, dass es nicht nur ein Projekt vom und fü rden typischen Kulturkuchen ist, sondern ganz verschiedene Menschen involviert werden», sagt Keller. Ihr Ziel sei gewesen,  auch Personen, die mit Kunst weniger anfangen können, im Projekt einzubinden. «Es ist ein Geschenk, auf welche Offenheit wir gestossen sind, was sicher viel mit dem Häuschen zu tun hat.» Dabei sei es völlig nebensächlich, dass es sich beim Ganzen um ein Kunstprojekt handelt. «Die Leute machen mit einem Schmunzeln mit, weil die ganze Geschichte doch auch etwas absurd ist.» Es sei ja schon fast übertrieben, was alles durch dieses Projekt entstehe. «Es gab wie eine Explosion im positiven Sinne», sagt die Projektleiterin. Irgendwie hätten die Bestandteile alle ein Eigenleben entwickelt. Und doch gäbe es Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen.

Das Buch und der Film werden am 26. April im Alten Kino in Mels vorgestellt, worauf das Projekt bis Mitte Mai in der Gemeinde gastiert. Mit ihrer Arbeit setzt das Projektteam dem Häuschen, das voraussichtlich 2025 abgerissen werden wird, ein vielschichtiges Denkmal. «Deshalb ist es jetzt ein schöner Moment, das Häuschen nochmals hochleben zu lassen.»

 
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