Die Geschichte einer Einwanderung
Vaduz. – Mit 16 Jahren steht Dimitrios Triantafillidis am Bahnhof in Zürich. Er muss nach Buchs – wie er dahin kommt, weiss er nicht. Doch als er durch den Bahnhof läuft, hört er plötzlich ein paar Worte Griechisch. Er legt dem Mann die Hand auf die Schulter, zeigt ihm seinen Arbeitsvertrag und bittet um Hilfe. «Hier bist du falsch», lacht der Mann und nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Da Kosta – so heisst der Grieche – nur ein Zimmer hat, schläft Dimitrios am Boden. Am Morgen bringt ihn Kosta zum Bahnhof und drückt ihm einen Zettel und einen Bleistift in die Hand. Darauf stehen alle Haltestellen zwischen Zürich und Buchs. «Jedes Mal, wenn der Zug hält, streichst du eine Station durch», sagt er. Drei Stunden und viele Kreuze später kommt Dimitrios in Buchs an.
Im gelben Bus nach Liechtenstein
Nach der langen Reise wartet eine böse Überraschung auf Dimitrios – die Polizei wartet am Bahnsteig, nimmt sein Gepäck und führt ihn über eine schmale Treppe in einen Keller. «Jetzt werde ich eingesperrt», ist er überzeugt. Erst, als er die Krankenschwestern in ihren weissen Kleidern sieht, wird ihm klar, dass es sich um eine medizinische Untersuchung handelt. Er legt sich auf eines der Betten und die Krankenschwester nimmt ihm Blut ab. Dann darf er wieder gehen.
Wieder draussen steigt Dimitrios in den ersten gelben Bus, den er sieht. Denn laut dem Griechen aus Zürich fahren alle gelben Busse nach Liechtenstein. Er fährt bis zur Endstation, obwohl er bereits ahnt, dass er im falschen Bus sitzt. Er weiss zwar nicht, wo Liechtenstein ist, aber er weiss, dass es in einem Tal liegt. Der Bus ist stattdessen in die Berge gefahren. Als er dem Buschauffeur seinen Arbeitsvertrag zeigt, erklärt ihm dieser, dass er in Unterwasser ist. Also setzt sich Dimitrios wieder hin und fährt zurück nach Buchs. Dort begleitet ihn der Chauffeur zum richtigen Bus. In Vaduz wird er vom Liechtensteiner Chauffeur bis zum Hotel Adler gebracht – seinem künftigen Arbeitsort.
Der Traum vom Sport
Dimitrios ist nach Liechtenstein gekommen, um arbeiten zu können. Und weil er den Hof der Eltern nicht übernehmen will. Eigentlich wollte er immer Sportler werden. Als Junge spielt er zuerst Fussball, später wechselt er zur Leichtathletik. Dem Vater allerdings gefällt das nicht, denn der Sohn soll auf dem familieneigenen Bauernhof mithelfen. Aber Dimitrios haut immer wieder ab, um trainieren zu können.
Dann kommt das Angebot aus Liechtenstein: Dimitrios’ Nachbar arbeitet dort im Hotel Adler und die Besitzer suchen weitere Arbeitskräfte. Er will die Chance ergreifen, einen Beruf ausserhalb der Landwirtschaft auszuüben – und hofft, dass er in Liechtenstein als Sportler entdeckt wird. Neben seiner Arbeit als Küchenbursche trainiert er mittags auf dem Sportplatz des Gymnasiums. Die Schüler beobachten ihn und er hofft, einem Sportlehrer aufzufallen. Aber nie kommt einer auf ihn zu, um ihn weiter zu trainieren. Nach zwei Jahren gibt Dimitrios auf und trainiert von da an nur noch im Schwimmbad, für sich selbst.
Milch holen bei minus 30 Grad
Die erste Zeit in Liechtenstein ist hart. Dimitrios spricht kein Deutsch und ist fast 2000 Kilometer von seiner Familie und seinen Freunden entfernt. Der harte Winter 1962/63 gibt ihm den Rest – minus 30 Grad und meterhoher Schnee. Er schreibt seinem Vater: «Ich glaube, ich bin in Sibirien gelandet. Ich ersticke im Schnee.» Der morgendliche Weg zur Molkerei wird zur Tortur. Die geräumte Gasse ist eng, und die Milchkannen müssen hoch gehalten werden. Einmal schlägt eine Kanne an die Schneewand neben dem Trottoir und die Milch schwappt auf seinen Fuss. Dimitrios setzt sich in den Schnee und weint. Ohne Milch getraut er sich nicht, ins Restaurant zurückkehren. Zum Glück sieht ihn eine Nachbarin im Schnee sitzen. Sie hilft ihm auf und begegleitet ihn zurück zur Molkerei, wo man ihm die Kanne gratis wieder auffüllt.
Dann fängt Jimmy an, auszugehen. Dimitrios nennt ihn keiner mehr, Jimmy ist einfacher. In den Restaurants zeigt er der Kellnerin einen Zettel, darauf steht entweder «Elmer Citro» oder «Coca Cola». Einmal zeigt er auf das Glas seines Nachbarn – so kommt er zu seinem ersten Weisswein. Er lernt immer mehr Liechtensteiner kennen, besucht sie zu Hause, geht mit ihnen aus. Am Abend gehen sie in den «Engel» oder den «Vaduzerhof». Meist in den «Engel» – dort ist es billiger und man muss keinen Eintritt bezahlen, um Tanzen zu gehen. Beim gemeinsamen Betten machen im «Adler» lernt er Franziska kennen, ein slowenisches Zimmermädchen. Ab und zu berühren sie sich wie zufällig – es ist der Beginn einer Liebesgeschichte.
Mit dem Brotkorb durch Vaduz
Insgesamt vier Jahre arbeitet Jimmy im Hotel Adler. Als er 1968 nach 28 Monaten Militärdienst nach Liechtenstein zurückkehrt, kann er sofort wieder anfangen. Doch dann wird er von einem Vaduzer Café abgeworben. Die Café-Chefin zahlt dem adretten Griechen, der stets einen Anzug trägt, ein paar Hundert Franken mehr und lässt ihn ein paar Stunden weniger arbeiten.
Der Tag ist jetzt strukturierter. Bevor die Stammgäste am Morgen kommen, legt er ihnen ihre Lieblingszeitung an den Platz und ein Gipfelikörbchen auf den Tisch. Dann geht er zu Fuss mit einem Korb voll Brot und Gipfeli zu allen Vaduzer Restaurants. Nach der Brottour steigt er in den Wagen und liefert in ganz Liechtenstein und der Umgebung Torten aus.
Er fängt an, sich in Vereinen zu engagieren. Denn er hat gemerkt: Wenn man nirgends dabei ist, ist man niemand in Liechtenstein. Er singt im ökumenischen Chor, tanzt im Tanzverein Feldkirch und kegelt im Kegelklub Vaduz. So trifft er immer mehr Leute und fängt an, sich in Liechtenstein zu Hause zu fühlen.
Nach sechs Jahren im Café wird er wieder abgeworben. Eine Wäscherei zahlt im dreihundert Franken mehr, ausserdem muss er nicht mehr an Feiertagen arbeiten und hat mehr Verantwortung. 18 Tonnen Wäsche werden jeden Tag gewaschen. Wenn falsch sortiert wird, ist alles futsch. Jimmy bleibt 26 Jahre, dann werden wegen der Krise Stellen abgebaut.
Nicht mehr dasselbe Griechenland
Heute ist Dimitrios Jimmy Triantafillidis 67 Jahre alt und geniesst den Ruhestand in seiner neuen Heimat Liechtenstein. Franziska hat er nach 17 Jahren des Zusammenlebens geheiratet, ihre Tochter Helena ist heute 28 Jahre alt. Er engagiert sich in sieben Vereinen und gehört der Kommission für Integrationsfragen an. Er will anderen Ausländern helfen, das zu schaffen, was er geschafft hat: sich in Liechtenstein zu integrieren und zu Hause zu fühlen. Zurück nach Griechenland will er nicht, vor allem nicht in der aktuellen Situation. Das Land ist nicht mehr das Griechenland, das er mit 16 verlassen hat. Er schämt sich für das Chaos, das die Politiker dort angerichtet haben. Und fragt sich, wofür er überhaupt wählen gegangen ist.
Dem Vater hatte der 16-jährige Dimitrios einst versprochen, nur ein, zwei Jahre in Liechtenstein zu bleiben. Jimmy aber hat seinen Entschluss, hier zu bleiben, nie bereut. (ah)
Schlagwörter
-
Neue Heimat Liechtenstein