Gefangen in der Felswand
Wo Freude ist, da ist Leben» steht auf einer Kerze in der Wohnung von Fritz Müller. Der Bergsteiger aus Oberschan hat seinen Weg gefunden, mit den schrecklichen Bildern zu leben, die ihn in seiner Laufbahn als Rettungsschef der Alpinen Rettung Schweiz begleitet haben. «Ein toter Mensch ist nur noch eine Hülle, alle Wärme ist aus ihm entschwunden. Wenn du dem Tod so nahe kommst wie ich, verlierst du die Angst vor ihm. Mein Motto ist: Lieber Gutes tun, so lange der andere noch warm ist.»
Das hat er getan, unter anderem bei Jürg Eugster aus Altstätten, der sich nach einem Basejump-Unfall für rund zweieinhalb Stunden in einer lebensbedrohlichen Lage befand, der Folge einer Reihe unglücklicher Zufälle. Denn die Vorbereitung für den Sprung war eigentlich perfekt gewesen. In seiner neunjährigen
Erfahrung als Fallschirmspringer hatte der Freizeitsportler bereits über 1000 Sprünge absolviert, bevor er sich im Frühling 2006 mit seinem ersten Basejump am Gardasee einen langersehnten Traum erfüllte. Sein Mentor war Ueli Gegenschatz – der wohl bekannteste Schweizer Basejumper, der vor zwei Jahren im Alter von 38 Jahren selbst bei einem Sprung tödlich verunglückte. «Er bereitete mich monatelang und mit grosser Sorgfalt darauf vor», sagt Jürg Eugster. «Es war ihm sehr wichtig, dass ich mir dafür Zeit nehme. Und er hat mich bei meinen ersten Sprüngen begleitet.» Das Erlebnis an sich war überwältigend. «Wenn du auf dem kleinen Felsvorsprung stehst, komplette Stille um dich herum, hast du Respekt. Doch wenn du springst, stösst der Körper unglaublich viel Adrenalin und Endorphin aus. Das wirkt wie eine Droge.»
Spektakuläre Rettungsaktion
Gegen Schlagworte wie «Spinner», «Wahnsinnige» oder «Lebensmüde» wehrt sich Jürg Eugster vehement. «Basejumping ist keine Einstiegssportart. Wer das macht, weiss genau, was er tut. Extremsportler spielen nicht mit ihrem Leben. Sie gehen nur an die Grenzen. Unfälle können immer und überall passieren.» Bei ihm passierte der Unfall aber nunmal bei seinem zehnten Basejump im Oktober 2006. Ein paar Kollegen – unter anderem Ueli Gegenschatz – hatten geplant, vom Gipfel Gigerwaldspitz zu springen. Und da war Jürg Eugster natürlich sofort dabei. Noch heute kann er sich genau erinnern, was schieflief: «Kurz nach dem Absprung zog ich die Leine des Schirms. Daraufhin machte ich eine ungewollte 180-Grad-Drehung und flog Richtung Berg.» Eigentlich wäre die Situation nicht weiter problematisch gewesen, da sich durch das Ziehen an der richtigen Leine gut wenden lässt. Es kam jedoch auch noch ein sogenannter Twist hinzu, eine Verdrehung der Leinen. «Und noch während ich die Verwicklung zu lösen versuchte, kam es zum Aufprall.» Die nächsten Sekunden im Leben von Jürg Eugster sind wie ausgelöscht. Mehrere Male schlug es ihn an die Bergwand und er sank immer tiefer. Sein grosses Glück war schliesslich, dass sich der Schirm an einer Felskante verhedderte und den Fall stoppte. Hier leistete sein Schutzengel ganze Arbeit. Ansonsten wäre Jürg Eugster rund 30 Meter auf eine Gröllhalde gestürzt und von dort aus 300 Meter in die Tiefe. Sein Leben hing in diesen Momenten im wahrsten Sinne des Wortes an ein paar Fäden.
«Mein erster Gedanke, als ich wieder zu mir kam, war, dass ich den Berg hinuntersteigen wollte», erinnert sich Jürg Eugster. «Ich merkte allerdings schnell, dass das unmöglich war, und langsam wurde mir auch das Ausmass der Verletzungen deutlich. Mein Mund war voller Blut und wenn ich den linken Ellbogen bewegte, schwamm der Schleimbeutel in der Jacke hin und her.» Ausserdem waren das rechte Handgelenk und der rechte Fuss zertrümmert sowie drei Rippen und auch der andere Ellbogen gebrochen. «Am meisten Schmerzen bereitete mir aber der Krampf, den ich aufgrund der strammen Beingurte im linken Bein bekam. Der war kaum auszuhalten. Und lösen konnte ich ihn nicht, da ich mich in dieser instabilen Lage kaum zu bewegen wagte.»
Eigenartigerweise kam ihm nie der Gedanke, dass er sterben könnte. Im Gegenteil. Ein banales Hirngespinst nach dem anderen jagte durch seinen Kopf. «Meine grösste Sorge war, dass Ueli Gegenschatz, der mich auch an diesem Tag begleitete, nun wegen mir ein Motorradrennen nicht sehen könne, auf das er sich so gefreut hatte. Und im nächsten Moment ärgerte ich mich wieder darüber, dass mir der Unfall meine Ferien versaute.» Die Brisanz der Lage war ihm nicht bewusst. «Ich versuchte auch noch Ueli Gegenschatz anzurufen, der oben an der Felskante stand. Aber leider fiel mir das Handy aus der Hand.» Mittlerweile hatten seine Freunde aber bereits den Rettungsdienst alarmiert und alles in die Wege geleitet, um ihren Kollegen aus der gefährlichen Lage zu befreien.
Das war der Moment, in dem Bergrettungschef Fritz Müller ins Spiel kam. Eigentlich wollte er gerade Biken gehen, als der Pager einen Notruf meldete. Nach einigen Verzögerungen, die aufgrund von Kommunikationsproblemen in der Rega-Zentrale entstanden, fuhr der Topkletterer mit dem Auto nach Sargans, wo der Helikopter der Rega Untervaz wartete. «Dadurch, dass ich nicht mit dem Heli abgeholt wurde – was in dringenden Fällen üblich ist –, ging ich davon aus, dass der Basejumper tot war.» Erst vor Ort erfuhr er, dass der Verunglückte noch gewunken habe, als man ihn das letzte Mal sah. «Da legten wir ein anderes Tempo vor. Ausgerüstet mit 200-Meter-Seil, Haken und Bohrmaschine flogen wir schnellstmöglich zum Unfallort.» Der Pilot setzte Fritz Müller und seinen Stellvertreter Johann Kühne durch ein äusserst schwieriges Flugmanöver auf ein Schuttband mitten in der Felswand ab – direkt unterhalb von Jürg Eugster. «Es war eine spektakuläre Aktion», erinnert sich Müller. «Das Gefährliche war, dass man im Geröll und Gras nicht sichern kann. Und bei einem Fehltritt wären wir über die 300 Meter hohe Wand unterhalb des Bandes abgestürzt.» Von diesem Band arbeiteten sie sich also ungesichert bis zur Felswand vor, wo sie schliesslich eine Verankerung bohren konnten. «Ich kletterte daraufhin hoch», erzählt Fritz Müller. «Dabei war das Problem, dass die losen Steine in der Felswand jederzeit ausbrechen konnten – und das ohne Zwischensicherungen, welche meinen Absturz gebremst hätten. Das war definitv kein Gelände für einen Spitzensportkletterer, sondern ein Gelände für eine alpine
Erfahrung.» Der Bergsteiger meisterte die Herausforderung jedoch mit Bravour und erreichte schliesslich den verunfallten Basejumper. Die jahrelange Erfahrung des Bergrettungschefs zahlte sich einmal mehr aus. Beim Verunfallten angekommen, ging alles schnell. Fritz Müller führte die Handgriffe mit automatisierter Präzision aus: Er sicherte erst sich selbst, befestigte dann den Verunfallten mit Karabinern am eigenen Körper, schnitt die Seile des Schirms durch und alarmierte den Piloten. «Ich kann mich noch an das grosse Messer erinnern, das er dabei hatte», sagt Jürg Eugster. Und der ehemalige Rettungsschef fügt an: «Und ich erinnere mich, wie er tränenüberströmt über seinen Krampf jammerte und mich immer wieder fragte, ob ich auch wisse, was ich tue.» Um ihn zu beruhigen, erklärte ihm Fritz Müller jeden einzelnen Handgriff genau. Als der Pilot schliesslich kam, musste er den Helikopter bedrohlich nah an den Felsen fliegen, um das Seil in Greifnähe des Bergretters zu bringen. «In diesem Augenblick hatte ich wirklich Angst, dass ein Steinschlag ausgelöst würde. Das wäre das Aus für uns alle gewesen.» Doch alles ging gut und so konnte Jürg Eugster endlich aus seiner Lage befreit und weggeflogen werden. Nach der ärztlichen Erstversorgung in Gigerwald ging es für den Extremsportler auf direktem Weg ins Krankenhaus nach Chur – während Fritz Müller zurück an den Felsen geflogen wurde, um seinen dort wartenden Kollegen zu holen.
Eine «Selbstverständlichkeit»
Wenige Tage später besuchte Fritz Müller seinen «Schützling» in der Intensivstation und brachte ihm seinen Fallschirm sowie das wieder gefundene Handy. «Der Schirm war sein eigentliche Lebensretter», so der Profi-Kletterer. «Er war komplett zerrissen. Wenn die Naht nicht gehalten hätte, wäre Jürg jetzt nicht mehr bei uns. Für mich grenzt diese Tatsache an ein Wunder.» Wirklich realisiert, wie nah er dem Tod war, hat es der Freizeitsportler bis heute nicht. «Ganz rational betrachtet, weiss ich es. Und ich bin meinem Retter unglaublich dankbar dafür, dass er sein eigenes Leben für meines
riskierte. Ich denke auch sehr oft an ihn. Aber irgendwie war für mich immer klar, dass mein Leben noch nicht abgelaufen war.»
Dieser Lebenswille war es auch, der den Heilungsprozess des damals 34-Jährigen so schnell vorantrieb, dass die Ärzte aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. «Ich liess mich nicht in einer Rehaklinik einsperren, sondern trainierte selbst jeden Tag hart», erinnert sich Jürg Eugster. «Härter als mir eigentlich erlaubt war. Mein Ziel war es, im Winter wieder auf dem Snowboard zu stehen.» Das hat er zwar nicht geschafft, jedoch im darauffolgenden März hatte er bereits wieder seinen ersten Fallschirmsprung. «In diesem Moment wusste ich, dass ich zurück im Leben bin.» Noch heute ist Jürg Eugster leidenschaftlicher Fallschirmspringer. Einen Basejump hat er jedoch nie mehr gewagt. «Eigentlich hätte ich es nicht ausgeschlossen. Doch nachdem Ueli Gegenschatz tödlich verunglückte, war das Thema für mich erledigt. Nur er hätte mir das nötige Selbstvertrauen geben können, nochmals zu springen. Dieses Vertrauen ist Bedingung für einen sicheren Sprung. Wenn Angst ins Spiel kommt, wird es gefährlich.»
Der starke Wille von Jürg Eugster beeindruckt Fritz Müller und sein Blick nimmt fast väterliche Züge an, wenn er ihm zuhört. Er ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Er lässt sich nicht unterkriegen – weder vom Anblick zertrümmerter Leichen noch von lebensbedrohlichen Bergungsaktionen. Dass sich ein Mensch unter Einsatz des eigenen Lebens für andere einsetzt – und das ganz vollkommen uneigennützig – mag viele erstaunen. Für Fritz Müller ist es selbstverständlich: «Die Rettung ist eine Gemeinschaftsangelegenheit. Ich bin Bergretter, weil ich auch selbst gerettet werden will, wenn ich einen Unfall habe.» Anerkennung, Dank oder Lob suche er nicht, das betont er mehrmals. Und doch zeigen die vielen säuberlich aufgehobenen Weihnachtsbriefe von Geretteten und Angehören, wie wohl ihm liebe Worte tun. Für diese Menschen ist er ein Held und wird es immer bleiben – ob er will oder nicht. (ne)
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