Kauf-Fabrik ? ein Ort der Begegnung
Von Heidi Lombardo
Drei Frauen und zwei Männer sitzen an einem langen Tisch, der mit roten Blumen geschmückt ist. Sie trinken Kaffee, reden und lachen. Im Hintergrund läuft das Lied «Would I lie to you baby» von Charles und Eddie. Neben der Essensausgabe steht ein Regal mit verschiedenen Brettspielen. Wenn man aus den grossen Fenstern blickt, sieht man den Coop Trübbach – die Menschen, die sich angeregt unterhalten, sind Patienten des Psychiatrie-Zentrums Werdenberg-Sarganserland (PZW). Sie geniessen gerade eine kurze Pause, bis die Therapiestunden weitergehen.
Ein Kunde wie jeder andere
Das PZW befindet sich an der Hauptstrasse in der Kauf-Fabrik in Trübbach. Auf dem Parkplatz stehen keine «gelben Wägeli», und wer denkt, dass man die psychisch erkrankten Menschen auf dem Flur sofort an einer eigenartigen Verhaltensweise erkennt, irrt. Ärzte, Mitarbeiter und Patienten begegnen im Eingangsbereich Kunden der Geschäfte, die sich in der ehemaligen Hemdenfabrik befinden, darunter Architekturbüros, Nähatelier und Sportstudio.
Die Leiterin des PZW, Claudia Gonzalez, findet diese Unterbringung der psychotherapeutischen Angebote perfekt: «Die Patienten können ein- und ausgehen, ohne aufzufallen.» Aus langjähriger Berufserfahrung weiss sie, wie viele Menschen mit einer psychischen Störung Angst haben, aufgrund ihrer Krankheit ausgegrenzt zu werden – nicht zu Unrecht, wie sie kurz darauf bestätigt: «In der Gesellschaft bestehen leider immer noch viele Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen.»
Überall offene Türen
Ein Versuch, Vorurteile und Berührungsängste gegenüber den Patienten des Psychiatrie-Zentrums Werdenberg-Sarganserland abzubauen, ist die Ausstellung «Begegnung und Kunst» der Kunstschule Liechtenstein. Ein grosses, buntes Bild zieht zum Beispiel die Blicke im Ambulatorium im 2. Stock der Kauf-Fabrik auf sich. Es schmückt den Eingangsbereich der ambulanten Psychotherapie, dem ein langer Gang mit Büros von Ärzten, Psychotherapeuten und Sozialarbeitern folgt. Das Auffällige dabei: Zwei Drittel der Türen stehen sperrangelweit offen. «Das symbolisiert unsere Unternehmenskultur: Wir haben nichts zu verbergen», erklärt Claudia Gonzalez. Die Türen seien nur während der einzelnen Psychotherapiestunden geschlossen, um die Intimsphäre der Patienten zu wahren.
Öffentliche Vorträge im Angebot
Am Ende des langen Korridors befindet sich das Sitzungszimmer. Der Raum wirkt im Gegensatz zu den persönlich eingerichteten Büros kahl und nüchtern. Der grosse Tisch und die vielen Stühle mit schwarzen Lederbezügen nehmen den grössten Platz ein. Dicht an der Wand stehen ein Regal voller Broschüren, ein kleiner Computer und ein Flipchart. Täglich um 11.30 Uhr treffen sich hier die Mitarbeiter des Ambulatoriums zum gemeinsamen Austausch.
«Wir besprechen die neuen Fälle und teilen die Patienten je nach Kompetenz und Kapazität unter dem Fachpersonal auf», erklärt Claudia Gonzalez auf dem Weg in die Tagesklinik, die sich im Erdgeschoss befindet. Die alte Holztreppe knarrt beim Hinuntergehen. Im ersten Stock legt die Leiterin des PZW einen kurzen Stop ein und erklärt, dass sich auf diesem Stockwerk die Unternehmenskommunikation und die Geschäftsleitung befinden. Dann nimmt sie die Treppe – die mittlerweile aus Stein ist – ins Erdgeschoss. Sie überquert den Eingangsbereich, in dem eine Informationstafel über verschiedene Vorträge zum Thema «Psychische Erkrankungen» steht. «Das Psychiatrie-Zentrum bietet auch öffentliche Vorträge für Angehörige, Betroffene und Interessierte an», erläutert Gonzalez.
Ein Schwatz in der Ergotherapie
Das Sekretariat der Tagesklinik befindet sich gleich links neben dem Haupteingang der ehemaligen Hemdenfabrik. Es folgt das Büro für begleitetes Einzelwohnen, ein externes Angebot des PZW: Drei Mitarbeiter helfen psychisch erkrankten Menschen dabei, einen normalen Alltag in ihrem eigenen Zuhause aufrechterhalten zu können. Ein kleiner runder Tisch, auf dem mehrere Zeitschriften liegen, zwei Stühle und ein Sessel in der Gestalt eines Zebras – ebenfalls im Eingangsbereich der Tagesklinik – deuten auf eine Warteecke hin. Wie beim Ambulatorium im zweiten Stock führt ein langer Gang entlang der Büros der Psychologen, Therapeuten, Ärzte und Pflegefachangestellten.
In der Mitte des Flurs befinden sich die ersten Therapieräume der Patienten: ein Gruppenraum für den gemeinsamen Austausch und ein Ruheraum, in den sie sich bei Bedarf zurückziehen können. Während diese Räume leer sind, dringen Stimmen aus dem letzten Zimmer, der Ergotherapie. Drei Frauen sitzen am Tisch und unterhalten sich. Während die Älteste der Damen eine Skulptur aus Ton formt, malen die beiden anderen. Auf der Fensterbank stehen zahlreiche fertige Kunstwerke und an den Wänden hängen die unterschiedlichsten Bilder. Ein rosarotes Gemälde wartet noch auf seine Bestimmung. Es steht angelehnt an ein Regal, lenkt durch das berührende Motiv aber sogar auf diesem unprominenten Platz die Aufmerksamkeit auf sich: ein Herz, das aus der Leinwand heraustritt. Der Duft von feinem Essen aus der Küche, die sich nebenan, am Ende des Gangs, befindet, erinnert daran, dass es bald Mittagessen gibt.
Patienten helfen in der Küche
Die Menütafel vor dem Restaurant des Psychiatrie-Zentrums Werdenberg-Sarganserland verrät, dass es zur Vorspeise Salat, als Hauptgang Rinds-Stroganoff mit Reis und Blätterteiggebäck zum Dessert gibt. Fleissige Helfer bringen gerade die Salatschälchen aus der Küche, um sie bei der Essensausgabe zu deponieren. Der Küchenchef, Reto Gabathuler aus Azmoos, kann in der Zwischenzeit Auskunft geben: «Das Küchenpersonal besteht hauptsächlich aus Patienten des PZW.» Gaba-thuler arbeitet seit der Eröffnung der Tagesklinik vor drei Jahren in Trübbach als Koch im Restaurant. Seine Aufgabe ist primär, die Patienten und Mitarbeiter kulinarisch zu verwöhnen und für eine gesunde Ernährung zu sorgen. Sekundär begleitet er die Therapieteilnehmer im Rahmen eines Arbeitstrainings in der Küche beim Planen, Einkaufen, Kochen und Essenausgeben, damit sie wieder Verantwortung übernehmen und selbstständig unter Druck arbeiten lernen.
Obwohl Reto Gabathuler vorher noch nie mit Menschen, die an einer psychischen Störung leiden, gearbeitet hat, hat er keine Probleme damit. «Heisst es nicht, in Küchen lernt man psychologische Kriegsführung?», fragt Reto Gabathuler mit einem Augenzwinkern. Dann wird er aber sofort wieder ernst und betont die Wichtigkeit des Restaurants für das PZW: «Unser Gastronomiebetrieb ist öffentlich zugänglich, um Patienten und Besucher zusammenzubringen.» – Das Ziel ist einmal mehr, die Hemmschwelle gegenüber psychisch erkrankten Menschen zu senken.
Bewegungsraum eingerichtet
Um zu den restlichen Therapieräumen zu gelangen, muss man durch das Restaurant. Nach einem kleinen Zwischengang kommt man als Erstes zum zweiten Raum der Ergotherapie, in dem reges Treiben herrscht: Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener Sozialschichten flechten Körbe oder bearbeiten Specksteine. Zwei junge Erwachsene verschönern den Rahmen eines Spiegels. Die Hilfe von Ergotherapeutin Claudia Kieber wird gerade nicht benötigt, sodass sie den Bewegungs- und Kunstraum – den letzten Teil der Tagesklinik – zeigen kann: «Die Musiktherapie ist neu und wird daher erst einmal in der Woche durchgeführt», erklärt sie den menschenleeren Saal. Auf dem Boden sind Trommeln, Rasseln und weitere Instrumente auf einer Decke ausgebreitet.
Auch im Kunstraum nebenan befindet sich niemand. Der intensive Geruch der Acrylfarben und die frische Farbe auf dem Papier an der Wand deuten darauf hin, dass die letzte Kunsttherapie noch nicht lange zurückliegt. Die Ergotherapie neigt sich dem Ende zu und Kieber muss langsam wieder zu ihren Patienten zurück. In diesem Moment betreten zwei Herren mittleren Alters den Gang. Sie steuern auf die grosse Garderobe zu, die sich gegenüber der Ergotherapie-Werkstatt befindet, tauschen die Hausschuhe gegen die Strassenschuhe ein und holen ihre Wertsachen aus den persönlichen Schliessfächern. Sie unterbrechen ihre Unterhaltung dabei nicht und scheinen sich auf zu Hause und ihre Familien zu freuen – eine Situation, die sich in jedem x-beliebigen Büro abspielen könnte – wenn man es nicht besser wüsste.