Ein wenig chinesische Tradition in der Schweiz
Egal, ob Jia Grenacher-Liu als Ärztin ihre Patienten betreut, sich gerade mit der Kunst des Fächer-Tai-Chis beschäftigt oder einfach nur bei ruhiger chinesischer Musik ihre Seele baumeln lässt – sie ist immer mit ganzem Herzen bei der Sache.?Für sie ist ihr Job ihre Berufung. «Ich fühle stets mit meinen Patienten mit. Das beeinflusst die Wirkung meiner Medizin», ist sie sicher. Seit bald 30 Jahren praktiziert die 52-jährige Ärztin Traditionelle Chinesische Medizin und versucht dabei täglich, dem 2500 Jahre alten Medizinsystem gerecht zu werden.
TCM befasst sich mit der Harmonie von Körper, Geist und Natur. Dabei hängt die Gesundheit vom Gleichgewicht zwischen den gegensätzlichen Kräften Yin und Yang ab. Wirkt eine der beiden Kräfte stärker oder schwächer, führt das zu Ungleichgewicht und Krankheit. «Meine Aufgabe ist es, Yin und Yang ins Gleichgewicht zu bringen, damit die Lebensenergie – das Qi – wieder frei fliessen kann.» Für ein Ungleichgewicht verantwortlich sei meist eine Kombination aus Stress, Stimmung, Ernährung, Gewohnheiten und Wetterschwankungen. «Mithilfe der klassischen Diagnoseformen kann ich herausfinden, wo die Ursachen für die Beschwerden liegen.» Verschiedenste Methoden wie Akupunktur, chinesische Kräutermedizin, Schröpfen, Tuina-Massagen etc. helfen Jia Grenacher-Liu dabei, ihre Patienten von ihren Beschwerden zu befreien. «Dazu muss man wissen, was man mit TCM alles machen kann – das Ganze ist kein Zauber, bei dem eine Behandlung den Patienten heilt», betont sie.
Die Erfahrung machts
Um diese alte chinesische Urform der Medizin zu beherrschen, brauche es jahrelange Erfahrung. Nach Abschluss der Universitätsausbildung sammelte sie diese bei ausgewählten Ärzten in China. «Die Traditionelle Chinesische Medizin wird von Generation zu Generation weitergegeben, immer wieder weiterentwickelt und verfeinert», erklärt die Ärztin. Daher sei es wichtig, von erfahrenen Ärzten zu lernen und sich fortlaufend weiterzubilden.
Über 20 Jahre lang, zuletzt in leitender Funktion, praktizierte Jia Grenacher-Liu in einem grossen Spital in China. Dort war die Zusammenarbeit zwischen westlicher Schulmedizin, die ein Teil ihres Studiums war, und TCM ein Schwerpunkt. «In China arbeiten beide Medizinrichtungen Hand in Hand. «Es ist wichtig, sich in beiden Gebieten auszukennen, nur so kann man für den Patienten die bestmögliche Heilmethode finden.» Sie freue sich, dass sie auch in der Schweiz die?Möglichkeit habe, mit einigen Schulmedizinern zusammenzuarbeiten.
Stets ein Vorbild
Aufgewachsen ist Jia Grenacher-Liu in Jiang Su, in der Nähe von Shanghai. Ihr Vater war Leiter des Finanzamtes und die Mutter medizinische Laboristin. Als Ältestes von drei Kindern hatte sie es nicht immer leicht, denn sie war für ihre Geschwister das Vorbild. «Ich war immer das brave Mädchen. Manchmal hätte ich auch gerne einfach nur gespielt, anstatt zu lernen», erinnert sie sich. Trotzdem erlebte sie eine schöne Kindheit. «Wir hatten alles, was wir brauchten und meine Eltern wollten immer nur das Beste für uns», erklärt sie.
Die Erziehung in China sei allgemein ganz anders als in Europa. Während der Vater eher ernst und streng sei, sei die Mutter warmherzig und fürsorglich. «Für uns Chinesen ist das gut so, denn wir alle wissen, dass dies nur eine Rolle ist, in der die Eltern sich befinden. Der Vater meint es nur gut und ist in seinem Innern genauso warmherzig wie die Mutter», so die 52-jährige Chinesin.
Einmal abschalten, bitte
2002 kam Jia Grenacher-Liu erstmals in die Schweiz. Zuerst arbeitete sie bei MediQi in Bad Ragaz und später bei Sinoswiss in Schwyz – beides TCM-Center. Doch irgendwann, vor rund zwei Jahren, «wollte ich TCM im kleineren, persönlicheren Rahmen anbieten». So eröffnete sie ihre eigene Praxis in Buchs. «Ich bin sehr glücklich, wie es jetzt ist. Ich kann mich noch besser auf meine Patienten konzentrieren und mir für jeden genügend Zeit nehmen», erklärt sie. Einzig die Arbeit hinter sich zu lassen und abzuschalten, fällt ihr auch nach bald 30 Jahren als Ärztin schwer. «Wenn etwas nicht so läuft, wie ich es möchte, dann drehen sich die Gedanken in meinem Kopf.» Sie arbeite jedoch an ihrer Gelassenheit und ihr Mann Walter helfe ihr dabei.
Liebe mit Missverständnissen
Den Schweizer hat sie 2003 kennengelernt. «Er war mein Qigong-Schüler. Als der Kurs zu Ende war, kam er zu mir in Behandlung.» Irgendwann war auch die Behandlung fertig – «dann lud er mich immer wieder zum Wandern ein», lacht sie. Da Jia Grenacher-Liu damals noch kaum Deutsch sprach, wusste sie nicht, was Wandern bedeutet. Auch ihre Dolmetscherin musste das Wort erst nachschlagen. Die Definition war Jia dann gar nicht geheuer, denn «klettern» konnte sie nicht. «Ich habe Walter immer wieder abgesagt, bis er mir versicherte, dass wandern wirklich jeder kann», erinnert sie sich. Und so gingen sie zusammen in die Berge. «Als wir auf der Bergspitze ankamen, fragte ich ihn, wann wir denn endlich mit dem Wandern beginnen.» Er lachte und klärte sie auf.
Lange Zeit waren die beiden gute Freunde, bis irgendwann Liebe daraus wurde. «Mein Mann fasziniert mich immer wieder», freut sich Jia Grenacher-Liu. Er sei so gutmütig und herzlich – «so jemanden habe ich noch nie kennengelernt». Trotz der kulturellen Unterschiede würden ihre Herzen dieselbe Sprache sprechen. «Natürlich war es anfangs, als ich kaum Deutsch sprach, noch um einiges schwieriger», erzählt sie. Doch auch jetzt kann es ab und zu noch vorkommen, dass sie sich missverstehen. So würden sich in China beispielsweise die Frauen mit ihren Gefühlen zurückhalten, was man sich hier in Europa nicht gewohnt ist. «Weder bedankt man sich für eine nette Geste noch sagt man ‹Ich liebe dich›», erklärt sie. «Man drückt seine Gefühle mit einem Lächeln aus und erwartet, dass der Partner dies merkt.» Und auch sonst heisst es für die Männer: «Augen auf!» – oder eher «Herz auf!», denn wer nicht merkt, was seine Frau gerne möchte, der hat es schwer. Doch ganz so stur wie in China hält es Jia Grenacher-Liu in der Schweiz natürlich nicht. «Mit der Zeit lernt man, miteinander zu kommunizieren – man kommt einander entgegen.»
«Unser Deutsch»
Das Entgegenkommen gilt auch für die Sprache. Während Jia Grenacher-Liu hart an ihrem Deutsch arbeitet, lernt ihr Mann gerade – nicht weniger mühsam – Chinesisch. «Er besucht immer wieder Chinesisch-Kurse», erzählt sie. Mittlerweile haben die beiden eine eigene Sprache entwickelt, «ein Mischmasch aus chinesischen und deutschen Wörtern. Wir nennen es ‹unser Deutsch›», lacht sie. Und dass sich ihr Mann auch in China wohlfühlt, hat der dreiwöchige Aufenthalt im April in ihrem Heimatort gezeigt. «Mein Mann hat sich sofort mit meinen Eltern und Geschwistern verstanden und die Umgebung ab und zu auf eigene Faust erkundet.»
Ob Jia Grenacher-Liu irgendwann wieder in China leben möchte, weiss sie noch nicht. «Ich bin überall gerne. Am liebsten mal in der Schweiz, mal in China.» Sicher ist jedoch, dass sie sich, egal wo sie gerade ist, wohlfühlt. Einen Traum hat sie allerdings: «Ich möchte irgendwann zusammen mit meinem Mann in einem Wohnmobil durch die Welt reisen.» Darauf freut sie sich jetzt schon. (jg)
Steckbrief
Name: Jia Grenacher-Liu
Wohnort: Azmoos
Alter: 52
Zivilstand: verheiratet
Beruf: Ärztin der Traditionellen Chinesischen Medizin
Hobbys: Tai-Chi Fächerform, Musik hören, Kochen & Essen, Wandern
Leibspeise: Reis und Krevetten
Getränk: Wasser, Tee
Musik: Alte chinesische Musik
Lektüre: Biografien, «Texte, die mich berühren»
Stadt/Land? Früher Stadt, heute Land
Ort: Wartau
Stärke: «Ich kann mich gut in meine Patienten hineinversetzen.»
Schwäche: «Ich kann nicht gut abschalten.»
Motto: «Ich denke stets positiv und strebe nach Zufriedenheit und Harmonie.»
Traum: «Zusammen mit meinem Mann per Wohnmobil durch die Welt reisen.»
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«Liewo-Porträt»