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«Literaturpapst» Marcel Reich-Ranicki wird 90

Stets streitlustig, witzig und pointiert feiert Deutschlands bekanntester Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki am 2. Juni sein 90. Jubiläum. Für manche sind seine kritischen Worte jedoch zu hart.

Er hat einen Bekanntheitsgrad, der fast jeden Politiker vor Neid erblassen lässt: 98 Prozent der Deutschen haben schon einmal den Namen Marcel Reich-Ranicki gehört. Um den berühmtesten Literaturkritiker des Landes, der am Mittwoch seinen 90. Geburstag feiert, ist es zwar etwas ruhiger geworden. Doch "MRR" schreibt weiterhin seine Zeitungskolumnen. Und es kann immer vorkommen, dass er mit intellektueller Brillanz und voller polternder Streitlust eine Diskussionslawine lostritt.

Zuletzt geschah dies vor eineinhalb Jahren, als er im ZDF vor laufenden Kameras den Deutschen Fernsehpreis ablehnte, weil er ein Zeichen gegen den täglichen "Blödsinn" auf der Mattscheibe setzen wollte. Dabei war es das Fernsehen, dass mit dem "Literarischen Quartett" Reich-Ranicki zum grossen Entertainer gemacht hatte. Nur wenige können mit den Möglichkeiten des Massenmediums so gekonnt umgehen wie Reich-Ranicki. Nicht zufällig gehört Thomas Gottschalk zu seinen grössten Verehrern.

"Verona Feldbusch der Literaturkritik"

Während ihn die Hamburger "Zeit" einst als "Verona Feldbusch der deutschen Literaturkritik" bezeichnete, ist Reich-Ranicki für andere schlicht und einfach "Deutschlands Literaturpapst".

Seine durchdringende, leicht krächzende Stimme und sein fuchtelnder Zeigefinger sind zu seinen Markenzeichen geworden. Keiner kann Bücher - nicht nur im Fernsehen - so verreissen oder in den Himmel loben wie er. Nie zimperlich, immer streitbar, manchmal aggressiv und schulmeisterlich, oft witzig und pointiert. Reich-Ranicki ist nicht nur einer der besten Kenner der deutschen Literatur, er ist selbst auch ein großer Erzähler. Bei einem so bewegten Leben allerdings kein Wunder: Seine 1999 veröffentlichte Autobiografie hat sich millionenfach verkauft.

Nazis wiesen ihn ins Warschauer Ghetto aus


Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel geboren. Sein Vater, ein polnischer Jude, war Kaufmann, seine Mutter eine deutsche Jüdin. Nach dem Konkurs des väterlichen Betriebs siedelte die Familie 1929 nach Berlin um. In Deutschland durfte der junge Marcel aber nicht studieren - die Nazis wiesen ihn 1938 nach der Matura nach Polen aus. Im Warschauer Ghetto gelang ihm 1943 mit seiner Frau Tosia die Flucht, sie überlebten im Untergrund. Seine Eltern und Schwiegereltern kamen in den Vernichtungslagern um.

Über die Tätigkeit in Polens kommunistischem Geheimdienst und im diplomatischen Dienst kehrte Reich-Ranicki 1949 zurück nach Warschau. Ein Jahr später wurde er aus seinen Ämtern entlassen und aus der Kommunistischen Partei wegen "ideologischer Fremdheit" ausgeschlossen. Schon lange ein Liebhaber deutscher Literatur, begann er als Lektor und freier Schriftsteller zu arbeiten. 1958 kam er für immer nach Deutschland und machte sich als scharfzüngiger Kritiker bei der "Zeit" in Hamburg einen Namen. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Herzbeschwerden bremsen das rastlose Arbeitstier


Das grosse Publikum fand der Literaturpapst aber erst 1988, als das "Literarische Quartett" in ZDF und ORF startete. Von 1988 an bis 2001 wurden unter der Moderation von Reich-Ranicki rund 400 Bücher besprochen und oft zu Bestsellern gemacht. Nach einer Sondersendung des "Quartetts" Anfang 2006 zum 150. Todestag von Heinrich Heine, dem Lieblingsautor von "MRR", wurde dieser mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Seitdem ist Reich-Ranicki gesundheitlich angeschlagen, er darf auch nicht mehr fliegen. Das tut ihm weh - nicht nur weil er nicht Tel Aviv besuchen kann, wo ein nach ihm benannter Stiftungs-Lehrstuhl für deutsche Literatur eingerichtet wurde. "Ich würde auch gerne mal wieder nach Amerika reisen."

Der Kritiker gilt als Arbeitstier - auch heute noch. Gelassenheit im Alter ist nicht unbedingt seine Sache, wie er in Interviews eingeräumt hat. Die Angst vor dem Tod bleibt. "Ich denke täglich daran", sagte Reich-Ranicki, der nicht an Gott glaubt, dem "Focus". Schon bei der Feier zu seinem 85. Geburtstag wurde er, der mit seiner Frau Tosia seit vielen Jahren in Frankfurt lebt, von tiefer Melancholie überfallen. Er sei kein glücklicher Mensch, meinte er damals.

Für Günter Grass und Martin Walser zu kritisch

Der Einzelkämpfer hat sich immer auch als Aussenseiter verstanden. Bei Schriftstellern hat er sich mit seinen harschen Urteilen wenig Freunde gemacht - mit Günter Grass kam es erst im Oktober 2007 wieder zu einer Annäherung, als Reich-Ranicki ihn als "nach wie vor bedeutendsten deutschen Schriftsteller" bezeichnete. Eine Aussöhnung mit Martin Walser, der nach einem herben Verriss eines Romans im Jahr 1976 mit Reich-Ranicki brach, steht immer noch aus. Das Zerwürfnis gipfelte 2002 in Walsers Skandalbuch "Tod eines Kritikers", das wegen Antisemitismusvorwürfen beinahe nicht gedruckt worden wäre. Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, unschwer als Reich-Ranicki zu erkennen. Der Kritiker und seine Frau fühlten sich damals "tief getroffen".

Reich-Ranicki wünscht sich von Walser eine Entschuldigung. Er könnte sich ein Treffen mit dem Schriftsteller vorstellen, "wenn er bedauern würde, was er getan hat". Das letzte Kapitel in der Geschichte der beiden grossen alten Männer der deutschen Nachkriegsliteratur scheint also nicht geschrieben.

Um die jüngere deutsche Literatur-Szene kümmert sich "MRR" nicht mehr besonders, wie der Kritiker selbst sagt. Aber er führt sein Projekt der "Frankfurter Anthologie" fort. Jedes Jahr erscheint ein Band mit 50 kommentierten Gedichten - der 34. ist in Arbeit.

Feierlichkeiten mit Gottschalk und Schmidt

Zum 90. Geburtstag wird der Literaturkritiker gleich mehrfach gefeiert. Im Jüdischen Museum in Frankfurt wird am Sonntag (30. Mai) eine Ausstellung eröffnet, für die Reich-Ranicki ihm persönlich gewidmete Bücher aus seiner Privatbibliothek zur Verfügung gestellt hat - von Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll über Nelly Sachs bis zu John Updike.

Am 6. Juni beehrt die TV-Prominenz den Jubilar: Nicht nur Thomas Gottschalk reist zur Verleihung der Ludwig-Börne-Medaille an Reich-Ranicki in der Frankfurter Paulskirche an. Auch Harald Schmidt kommt - und wird am Klavier Brecht-Lieder zum Besten geben. Das ZDF überträgt live. Und man darf davon ausgehen, dass Reich-Ranicki dieses Mal die Huldigungen des Fernsehens gerne entgegennimmt. (ddp)


 

 

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