Lawinendienst-Chef im Interview
Lawinen in den Bergen: Eigenverantwortung und Notfallausrüstung sind das Wichtigste
Wohlwend betrachtet das nicht nur aus Sicht eines erfahrenen und passionierten Skitourengängers, sondern macht sich auch als Chef des Lawinendienstes und als Zuständiger für Naturgefahren beim Amt für Bevölkerungsschutz Gedanken darüber. Denn auch in Liechtenstein ereignen sich immer wieder Lawinenunglücke mit Todesfolge.
Herr Wohlwend, was kann man tun, wenn man in eine Lawine gerät?
Stephan Wohlwend: Alles, was man dann noch tun kann: Arme über das Gesicht halten und versuchen, Raum zum Atmen schaffen und hoffen.
Deshalb sollte man immer eine Lawinenausrüstung dabei haben. Was beinhaltet diese?
Drei Dinge müssen IMMER dabei sein: Ein Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS-Gerät), eine Lawinensonde und eine Schaufel. Mit dem LVS-Gerät können Verschüttete von ihren Kameraden zeitnah geortet werden.
Das ist aber leider nicht immer der Fall. Woran sehen Sie, wenn jemand «leichtsinnig» bzw. «blauäugig» unterwegs ist?
Hat jemand keinen Rucksack dabei, dann fehlt auch die lebensrettende Lawinenausrüstung. Oder jemand wählt eine Route, die den Verhältnissen nicht angepasst ist.
Ärgert Sie das?
Ärgern ist das falsche Wort. Diese Personen sind ja selbst für sich verantwortlich. Was mich wirklich ärgert, ist aber, wenn durch das fahrlässige Verhalten Einzelner Dritte gefährdet werden.
Seit Beginn der Aufzeichnungen sind über 900 Lawinenereignisse beim Amt für Bevölkerungsschutz dokumentiert – ereignet haben sich aber weit mehr. Sicher ist: Es gab 16 grössere Lawinenereignisse mit Personenbeteiligung. Bei 10 Ereignissen gab es 12 Lawinentote, bei mindestens weiteren 6 Lawinenabgängen wurden Personen verschüttet, die Such- und Rettungsaktionen auslösten. Ausserdem gab es 24 Lawinen mit Gebäudeschäden. Rund 30 Gebäude wurden dabei komplett zerstört, weitere 30 Gebäude stark beschädigt.
An das grösste Lawinenereignis im Februar 1999 können sich sicher noch viele erinnern. Im Malbuntal fielen von Anfang Januar bis zum 18. Februar 350 cm Schnee. Am 9. Februar wurde der hintere Teil Malbuns evakuiert. Am 21. und 22. Februar zerstörten zwei Lawinen neun Ferienhäuser vollständig und sechs weitere teilweise. Dank der vorsorglichen Evakuierung des Gebiets kamen keine Personen zu Schaden. Am 24. Februar wurden die letzten noch in Malbun verbliebenen 300 Personen mit Helikoptern ausgeflogen, unter ihnen 220 Feriengäste. Eine weitere Lawine riss am 22. Februar die im oberen Valünatal gelegene Obersäss-Alphütte mit dem Stall weg. Die verursachten Schäden beliefen sich auf rund 6 Millionen Franken.
Stephan Wohlwend legt die Gefahrenkarte auf den Tisch und zeigt, wo sich die kritischen Zonen und Gebiete in Liechtenstein und vor allem in Malbun befinden. Das Gebiet kennt er wie seine eigene Westentasche. Zu fast jedem Haus kann er eine Geschichte erzählen, zeigt auf, wo die Lawinen im Jahr 1999 abgegangen sind und welche Häuser sie zerstört haben.
Malbun wurde in der Zwischenzeit in verschiedene Zonen eingeteilt. Wie funktioniert das in der Praxis, wenn ein Gebiet gesperrt oder gar geräumt werden muss?
Wir haben einen Notfallplan erstellt, damit eine allfällige Evakuierung der betroffenen Ferienhäuser reibungslos über die Bühne gehen kann. So gibt es drei Sperrgebiete – A, B und C. Und je nach Lawinensituation müssen eines, zwei oder alle drei Gebiete gesperrt und evakuiert werden. Das Sperrgebiet A, die gefährlichste Zone, die wir auch öfters sperren müssen, befindet sich im hinteren Teil des Malbunkessels. Dort stehen zwei Gebäude. Die Hausbesitzer wissen alle Bescheid, und wenn es kritisch wird, erhalten sie rechtzeitig eine SMS. Zudem gibt es definierte Gebiete, welche je nach Lawinengefahr auch für Fussgänger gesperrt werden.
Ist eine solche Sperrung nicht ärgerlich für die Bewohner?
Glücklicherweise handelt es sich allesamt um Ferienhäuser, die nicht permanent besetzt sind. So ist eine Sperrung der Zonen für die Bewohner nicht so dramatisch, weil sie auf ihren Hauptwohnsitz ausweichen können. Zudem ist das Verständnis der Bewohner in den gefährlichen Zonen mittlerweile doch sehr gross.
Gibt es eigentlich noch andere Zonen, in denen Lawinengefahr herrscht, oder beschränkt sich dies auf Malbun?
Nein, das beschränkt sich nicht nur auf Malbun. Auch in Steg, Triesenberg und Planken gibt es Gefahrengebiete. Zwar werden dort keine grossen Lawinen wie in Malbun abgehen, aber kleine Gleitschneelawinen sind an diversen Stellen möglich. Ein Blick auf das Geoportal map.geo.llv.li zeigt im Thema «Naturbedingte Risiken» auf, wo sich diese Stellen genau befinden. Hier können wir natürlich nicht einfach Sperrungen durchführen, zumal viele Strassen durch die Gebiete führen. Herrscht erhöhte Lawinengefahr, machen wir die Gemeinden und Einwohner darauf aufmerksam, sich mit Vorsicht in diesen Gebieten zu bewegen.
Vor allem Schneeschuhwandern erfreute sich in den letzten Jahren immer grösserer Beliebtheit. Aber auch Skitouren haben sich zum Trend entwickelt. Kein Wunder: Unberührte Schneelandschaften weit ab von den Massen, frischer Pulverschnee und kein Lärm. Einfach zur Ruhe kommen und die Natur mit Leib und Seele erleben. Pure Magie. Vor allem wer aber mit dem Skitourengehen beginnen möchte, sollte definitiv einen Kurs besuchen. Hier wird unter professioneller Anleitung der Umgang mit der Notfallausrüstung, Schnee- und Lawinenkunde, Routenplanung, sowie Ausrüstungskunde gezeigt und somit der Grundstein für Sicherheit und Spass am Berg gelegt.
Tiefschnee übt auf viele Wintersportler eine Faszination aus – auch auf Sie selbst. Sie machen regelmässig Skitouren. Was gilt es dabei zu beachten?
Ja, Tiefschnee ist etwas Faszinierendes. Wer sich darauf einlässt, muss sich aber zwingendermassen auch mit dem Thema Lawinen beschäftigen und sich auf eine Tour vorbereiten. Wetter, Route, Ausrüstung, Lawinenbulletin – hier gehören viele Faktoren miteinbezogen. Hierzu gibt es heutzutage viele Hilfsmittel. Beispielsweise die App Whiterisk vom SLF.
Gibt es Wege, die ich im Winter völlig bedenkenlos und ohne Lawinenausrüstung beschreiten kann?
Nur auf geöffneten und markierten Winterwanderwegen. Überall anders gilt: Eigenverantwortung und Notfallausrüstung.
Sie selbst können die Situation jeweils gut beurteilen. Wie erkennen Sie, ob und wann es «brenzlig» wird?
Da gibt es verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Am besten geht man nach dem Beurteilungs- und Entscheidungsrahmen 3 x 3 vor. Zahlreiche Risiken können bereits bei der Planung einer Tour ausgeschlossen werden. Zum einen muss man den Schneedeckenaufbau kennen und wissen, ob sogenannte Schwachschichten vorhanden sind. Ebenfalls berücksichtigen muss man das aktuelle Wettergeschehen. Also zum Beispiel die Neuschneesumme, den Wind, Triebschnee und die Temperaturen. Nie fehlen darf zudem ein Blick auf das Lawinenbulletin. Dann gilt es, die Situation vor dem Losgehen vor Ort einzuschätzen. Und hier soll man sich auch mal auf ein schlechtes Bauchgefühl verlassen und eine Tour abbrechen.
Wie haben Sie dieses Gespür entwickelt? Was braucht man, um die Lage professionell einschätzen zu können?
Einerseits natürlich eine entsprechende Ausbildung. Ich habe das Studium zum Forstingenieur absolviert. Die Naturgefahren und damit auch Lawinen sind ein Teil dieser Ausbildung. Auch habe ich weitere Ausbildungen im Bereich Skitouren und Lawinen absolviert. So zum Beispiel Kurse beim Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Hier wird spezifisches Know-how gelehrt, das für eine Entscheidungsfindung im Lawinenwarndienst unerlässlich ist. Bevor ich den Chefposten beim Lawinenwarndienst übernommen habe, war ich bereits rund 10 Jahre beim Lawinenwarndienst, unter anderem als stellvertretender Chef, und konnte auch hier wertvolle Erfahrungen sammeln. Ganz wichtig ist am Ende aber auch, dass man sich selbst im Gelände bewegt und unterwegs ist. Eine Einschätzung nur vom Bürotisch aus zu treffen, ist schwierig. Somit ist auch eine gewisse Freizeitaktivität in den Bergen und Leidenschaft für den Schnee notwendig.
Kann auch ein «Laie» lernen, die Lage richtig einzuschätzen?
Ja, durchaus. Es werden regelmässig Kurse und Ausbildungen für Private, beispielsweise von Bergsteigerschulen, in dieser Richtung angeboten.
Hatten Sie immer den richtigen Riecher? Oder sind Sie auch schon in gefährliche Situationen geraten?
Selber bin ich noch nie in eine Lawine geraten – konnte sie allerdings schon aus sicherer Distanz beobachten.
Der Lawinendienst ist verantwortlich für den Schutz der bewohnten Siedlungen, der öffentlichen Verkehrswege sowie der gekennzeichneten Winterwanderwege. Während der Wintermonate wird die Schneesituation durch die Kerngruppe ständig beobachtet und erforderliche Messdaten erhoben. Daraus resultieren Handlungsempfehlungen und geeignete Sicherungsmassnahmen bis hin zu Evakuierungen. Je nach Massnahmen werden sowohl die Bevölkerung wie auch die Medien zeitnah informiert. Diese Information kann lebensrettend sein. Stephan Wohlwend ist sich dieser Verantwortung bewusst.
Die Lawinengefahr ist europaweit in einer Skala von eins bis fünf kategorisiert. Von mässig (1) bis sehr gross (5). Auf welcher Grundlage legen Sie diese überhaupt fest?
Wie bereits erwähnt, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen: Vorgeschichte, Entwicklung, Wetterlage etc. Natürlich führen wir auch selber Messungen durch. Manuell erfolgen diese auf dem flachen Schneefeld zwischen dem Alpenhotel Vögeli und dem Schluchertreff und automatisch bei der Schneemessstation im Bärgtälli. Weiters gibt es ein Windmessgerät auf dem «Spitz» also dem Grat zum Augstenberg, das uns wichtige Daten liefert. Die Situation dokumentieren wir dann mithilfe eines vorgefertigten Formulars und treffen auf dieser Grundlage und unseren Erfahrungswerten eine Entscheidung.
Diese Entscheidung ist mit einer grossen Verantwortung verbunden. Fürchten Sie sich vor einer «Fehlentscheidung»?
Zu 100 Prozent ausschliessen kann man einen Lawinenabgang nie. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir unsere Entscheidungen schriftlich dokumentieren. Diese Daten machen einen Entscheid im Nachhinein nämlich erst nachvollziehbar. So ist die sorgfältige Dokumentation nicht nur Hilfsmittel, sondern dient uns auch als Absicherung. Genau das wurde übrigens einem Mitglied des Schweizer Lawinendienstes in der Vergangenheit zum Verhängnis: Er wurde verurteilt, weil eine Dokumentation fehlte und seine Entscheidung nicht nachvollzogen werden konnte.
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