Eine Entdeckungsreise in Buchform
Herr Brunhart, Sie können ohne Übertreibung als «Vater des Historischen Lexikons » bezeichnet werden. Bald müssen Sie ihr Kind jedoch in die Welt entlassen. Ein eigenartiges Gefühl?
Arthur Brunhart: Na ja, so ein Kind hat viele Väter und Mütter. Es ist das Ergebnis guter Teamarbeit. Ich bin froh, dass es so weit ist. Es hat lange gedauert, länger als ursprünglich geplant und es ist gut, dass es zum Abschluss kommt.
Wie kam es in den 80er-Jahren zur Idee, ein derartiges Grossprojekt anzugehen?
Den konkretenAnstoss gab Marco Jorio, Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz. Er war mein Studienkollege und Vorgänger als Assistent am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Uni Fribourg. Er informierte mich, dass er ein Konzept für ein Historisches Lexikon der Schweiz vorbereite und fragte, ob Liechtenstein sich beteiligen wolle. Jahre zuvor hatte ich dem Präsidenten des Historischen Vereins, Felix Marxer, die Schaffung eines Lexikons vorgeschlagen. Ich besprach JoriosVorschlag mit dem HistorischenVerein, dem damals Alois Ospelt vorstand. DerVerein entschied, ein eigenes Lexikon zu schaffen. Ich erarbeitete ein Konzept, das der Vorstand und die Mitgliederversammlung genehmigten und das von Landtag und Regierung die Unterstützung erhielt.
Worin sehen Sie den grössten Nutzen eines derartigen Lexikons für Liechtenstein und seine Bevölkerung?
Ein historisches Lexikon ist für unser Selbstverständnis grundlegend. Es gibt Orientierung. Die Liechtensteiner können nachlesen, woher sie kommen, wer sie sind, wie sich das Heute erklärt. Man kann das Land in seinen Facetten kennenlernen. Aus dieser Kenntnis erwächst unser Selbstverständnis. Es zeigt, was uns von anderen vielleicht unterscheidet und was uns gemeinsam ist. So ist das Buch auch aus staatspolitischer Sicht enorm wichtig.
Auf dem Weg zur Realisierung hatte es das Buch nicht immer leicht. Gab es jemals einen Punkt, an dem Sie alles hinwerfen wollten?
Nein, diesen Punkt gab es nie. Es hat sich jedoch gezeigt, dass der Aufwand für ein derartiges Werk gross ist, grösser als angenommen. Man darf nicht vergessen, dass wir Neuland betreten und Erfahrung sammeln mussten. Da ich anfangs alleine daran gearbeitet habe, war es ab und zu ernüchternd, von morgens bis abends zu arbeiten und nicht das zu erreichen, was ich wollte. Es fehlten die Ansprechpartner, mit denen sich lexikografische und inhaltliche Fragen diskutieren liessen. Ich schlug deshalb eine neue Organisationsstruktur vor, den personellen Ausbau der Redaktion, eine inhaltliche Straffung und einen neuen Arbeitsplan.
War die Entscheidung, die Redaktion auszubauen, rückblickend die richtige?
Ja, die Änderung hat sich in jeder Hinsicht bewährt. Wir konnten junge liechtensteinische Fachleute gewinnen, die sich mit Begeisterung und Fachkönnen dem Projekt widmeten. So wurden gute und rasche Fortschritte erzielt. Natürlich verführte die positive Entwicklung dazu, zusätzlich noch dies und jenes insAuge zu fassen. Es tauchten Themen auf, die berücksichtigt werden wollten und teilweise auch berücksichtigt sein mussten. Zudem spielte für mich der Aspekt, jungen Historikern aus dem Lande eine berufliche Startmöglichkeit zu geben, immer eine wichtige Rolle. Die Arbeit am Lexikon war für alle eine Herausforderung, aber auch eine Chance. So etwas gibt es nur einmal im Leben.An einem Pionierwerk mitarbeiten zu können, ist schon etwas Grossartiges.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit im Redaktionsteam?
Es war ein tolles, motiviertes Team, das sich sehr gut verstand. Jeder brachte das Seine ein. Ohne jemand hervorheben zu wollen, muss ich dem Redaktionsleiter Fabian Frommelt ein Kränzlein winden. Ohne ihn, seinen generösen Einsatz, seine Genauigkeit, seinen Qualitätsanspruch wäre es schwerer zu schaffen gewesen. Aber wie gesagt: Der Beitrag jedes Einzelnen war wichtig und unerlässlich. Das Wissen der Redaktion erweiterte sich buchstäblich von Tag zu Tag. In der Motivation des Teams widerspiegelte sich das Interesse an der Aufgabe, an der Geschichte des eigenen Landes.
Gab es böse Überraschungen?
Überraschungen gab es, klar.Auch böse Überraschungen können am Schluss gute Früchte tragen. Sie zwingen einen zur Prüfung des Ganzen. Die erste Stichwortliste umfasste gegen 4000 Begriffe. Diese hat man vornezu verdichtet, bis man bei den heutigen rund 2600Artikeln war. Das war Knochenarbeit. Jedes Stichwort, das man streichen musste, hat einen gereut. Andererseits stellte man fest, was alles noch nicht untersucht war. So stand man vor der Frage, ob man Stichworte weglassen oder mit dem Vermerk «noch nicht erforscht» erfassen sollte, oder ob man weitergehende Forschungen anstellen sollte.
Mussten Sie in all den Jahren viel Überzeugungsarbeit leisten oder war man stets vom Wert und der Bedeutung eines derartigen Buches überzeugt?
Überzeugungsarbeit musste ich nie betreiben. Das Konzept war gut, das Projekt sinnvoll. Regierung und Landtag waren vonAnfang an der weitsichtigen Meinung, dass das Buch für unser Land etwas Gutes ist und bewirkt. Die Menschen waren neugierig und kamen sogar mit Vorschlägen, wer oder was im Lexikon erwähnt sein sollte.
Und dennoch musste eine Auswahl getroffen werden. Wie ging man dabei vor?
Es galt, klare Kriterien festzulegen. Sicherlich gab es Personen, die aufgrund ihres Amtes automatisch Aufnahme fanden, wie Fürsten oder Regierungschefs. In anderen Kategorien waren Kriterien definiert, wie das persönliche Verdienst oder die Pionierleistung. Schwierig war es bei den Künstlern. Die festgelegten Kriterien, wie Zahl der Ausstellungen, Kataloge und anderes genügten nicht. Wie andere Lexika mussten wir ein Killer-Kriterium einfügen, nämlich eine Altersgrenze. Diese wurde so gewählt, dass der Künstler bei Erscheinen des Lexikons auf ein gewisses Lebenswerk zurückblicken kann, das für sich selber spricht.
Das Lexikon erscheint weitaus später als geplant. Böse Zungen behaupten sogar, dass es zum Zeitpunkt seines Erscheinens gar nicht mehr aktuell sei.
Ein Lexikon dieser Art hat kein Verfalldatum. Es hat einen anderen Anspruch. Als historisches Lexikon befasst es sich mit dem, was vergangen ist. Der Aktualitätswert misst sich am Stand der Forschung. Artikel über lebende Personen wurden bei wichtigen biografischen Änderungen über den Redaktionsschluss hinaus aktuell gehalten. Man darf nicht vergessen: Ein Lexikonartikel umfasst eine Grundinformation und ist ein erster Einstieg ins Thema. Man wird das Lexikon noch in 100 Jahren mit viel Gewinn benützen können.
Was hat zu Verzögerungen geführt?
Am Anfang hat man sicherlich die Schwierigkeiten eines derartigen Projekts unterschätzt. Man ist mit Optimismus ins Projekt gestartet, aber es hat sich gezeigt, dass dasWerk nicht so machbar ist, wie angedacht. Eine Erfahrung, die auch Lexikonprojekte anderer Länder machen. In die Unterstützung durch das Historische Lexikon der Schweiz durch Übernahme von Artikeln setzten wir Erwartungen, die sich nicht erfüllen liessen. Die EDV brachte nicht das, was man sich versprochen hatte. Das Fehlen von universitären historischen Instituten war immer wieder spürbar. Dann wurde die Thematik ausgeweitet. Die Betreuung der zahlreichen Berater und Autoren war sehr aufwendig. Die Qualität musste stimmen. Das brauchte alles seine Zeit.
Was waren die schönen Nebeneffekte während der Ausarbeitung des Lexikons?
Dass das Lexikon einiges in Bewegung setzen konnte. Es wurden Forschungsprojekte, Seminare, Tagungen und Weiterbildungen angeregt und umgesetzt. Es sind Nebenfrüchte des Lexikons, wie beispielsweise ein Buch über die Hexenverfolgung oder zahlreiche Seminar- und Studienabschlussarbeiten. So konnte man mit Einsatz bescheidener Mittel wissenschaftliche Erträge und Erkenntnisgewinne erwirtschaften.
Inwieweit deckt sich das vorliegende Buch mit Ihrer Idee von damals?
Mit Abstrichen decken sich Idee und Resultat. Artikelkategorien, Stichwortliste und Aufnahmekriterien entsprechen in etwa den damaligen Zielsetzungen, ebenso der Umfang. Geändert hat sich die breiter abgestützte Organisation.
Ist der zweite Band nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt dazugekommen?
Ziel war ein gedrucktesWerk.Am Anfang war nicht klar, in welcher Form es erscheinen sollte, ob in einem Band, in zwei Bänden oder in Faszikeln. Ein einziger Band wäre ein zu dicker Wälzer geworden. Ein zeitlich gestaffeltes Erscheinen kam aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Der Entscheid, das Lexikon gleichzeitig in zwei handlichen Bänden zu publizieren, ist sicherlich richtig.
Konzeptionell hat man sich an das Schweizerische Lexikon angelehnt. Und dennoch wollte man ein liechtensteinisches Buch machen. Wie wurde man diesem Anliegen gerecht?
Ja, das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) hat Vorbildcharakter. Ich möchte der Redaktion des HLS, besonders Marco Jorio, für die kollegiale Zusammenarbeit danken. Es gibt aber Unterschiede.Wir haben eine Artikelkategorie mehr. Das Lexikon befasst sich mit unserem Land. Unsere Artikel findet man nur in diesem Buch. Dort, wo andere Lexika aufhören, fängt unseres erst an. Dies, weil wir in unserem kleinen geografischen Raum mikroskopischer vorgehen konnten, als dies etwa in der Schweiz je möglich wäre. Wir hatten eine andere Aufgabe und einen tieferen Zugang zur eigenen Geschichte. Man darf sagen, dass es ein genuin liechtensteinisches Buch ist, vom Redaktionsteam her, vom Inhalt her, von der Arbeit, der grafischen Aufbereitung, vom Druck und vom Verkauf.
Gibt es bei der Ausgestaltung einen Aspekt, der das Buch zu etwas ganz Besonderem macht?
Im Prinzip ist es gleich wie herkömmliche Lexika. Jede Seite hat zwei Spalten und eine typisch lexikalische Schriftgrösse. Das Format ist eher ungewöhnlich. Das Lexikon ist nicht nur inhaltlich, sondern auch grafisch ein eigenständiges Werk, ein Kunstwerk.
Wer sollte das Buch auf jeden Fall sein Eigen nennen?
Es gehört in jeden Liechtensteiner Haushalt, in jede Schule, in jede Gemeinde, in jede Institution.Weil in diesem Buch Liechtenstein selbst steckt, sollte jeder, der sich für das Land interessiert, eines besitzen. Es ist nicht ein Buch, das man liest und dann im Büchergestell altern lässt, sondern eines, das man immer wieder zur Hand nimmt. Man kann es verschenken und vererben, denn daran werden auch die Ururenkel noch Freude haben.
Wäre das Ihr grösster Wunsch, dass das Buch lebt?
DerWunsch ist, dass es ankommt und benützt wird, dass es eben lebt. Jeder wird darin fündig. Es ist fast etwas wie ein modernes Hausbuch. Eine Fundgrube für jeden, der es in die Hand nimmt. Mit dem Lexikon kann man eine historische Entdeckungsreise durch unser Land machen.
In Zeiten von Internet wirken Lexika unzeitgemäss. Was macht den besonderen Reiz eines herkömmlichen Nachschlagewerks aus?
Etwa der Gedanke, dass man alles geschichtlich Wissenswerte über das Land buchstäblich in Händen halten kann. Ich kann das Buch überall hin mitnehmen, es vielfältig verwenden. Es ist ein haptisches, gewissermassen sinnliches Erlebnis, im Buch zu blättern. Zumal es zahlreiche Bilder, Karten, Tabellen und Grafiken aufweist. Die Arbeit und Begeisterung, die in diesem Buch stecken, werden im Druckwerk wesentlich stärker spürbar, als wenn ich mir einzelne Abschnitte im Internet anschaue. Ein solches Buch ist etwas Bleibendes.
Ist eine elektronische Form des Lexikons angedacht?
Ja, das ist vorgesehen. Das gedruckte Lexikon bildet die Grundlage. Die Weiterführung, Ergänzung und Aktualisierung, auch die Korrektur allfälliger Fehler werden auf elektronischem Weg erfolgen.
Ende Januar soll das Buch nun erscheinen. Was gibt es bis dahin noch zu tun?
Von unserer Seite aus eigentlich kaum mehr etwas. Jürgen Schindler betreut die Abschlussredaktion und begleitet die Drucklegung. Im Moment werden vom Atelier Silvia Ruppen die letzten grafischenAnpassungen umgesetzt. In der zweiten Novemberhälfte laufen die Druckmaschinen.
Gab es während der arbeitsintensiven Zeit auch besondere Aha-Erlebnisse?
Davon gab es viele. Manchmal kam man echt ins Staunen und konnte kaum glauben, auf was man gestossen war. Unsere Geschichte ist viel reichhaltiger, als man sich träumen lässt.
Wofür bleibt jetzt wieder mehr Zeit?
Für alles andere. Ich glaube aber kaum, dass es mehr Zeit geben wird. Vielleicht zwei, drei Stunden mehr Freizeit pro Woche.Während der letzten beiden Jahre, nach dem Abschluss der Redaktionsarbeiten, liefen die konkreten Umsetzungsarbeiten nebenher. Da waren andere gefordert. Es war schön zu sehen, wie das Lexikon zusehends Gestalt angenommen hat. (Interview: ehu)
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Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein