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Die Frau der tausend Geschichten

Auf der Suche nach der eigenen Familiengeschichte kam Gabriela Cortés vor zehn Jahren über Umwege nach Liechtenstein. Wieder einmal die Ausländerin zu sein, fiel der gebürtigen Mexikanerin nicht immer leicht.

Eschen. – Gabriela Cortés in einem edlen Abendkleid und langem, wallendem Haar an einer Gala. Gabriela Cortés in einem folkloristischen mexikanischem Kostüm, auf dem Kopf ein Sombrero. Ein grosses, selbst gebautes Holzhaus mitten in einem Wald in Amerika. «Keine Angst, ich zeige dir nicht alle meine Fotos», sagt die gebürtige Mexikanerin, während sie ihre Fotoalben hervorholt und darin zu blättern beginnt. Zu jedem Foto gibt es eine Geschichte, fast bei jedem öffnet sich eine neue Welt, von der Cortés mit leuchtenden Augen zu erzählen beginnt.
Etwa, wie sie als junge Frau als Reporterin bei einer lokalen mexikanischen Fernsehstation viele Galas und Feste besuchen durfte. Wie sie ein Jahr lang in Amerika bei einer Hippie-Familie wohnte. Oder auch, wie sie heute noch an Geburtstagen eine Piñata für ihre Kinder bastelt, wie früher ihre eigene Mutter. «Au ja!», ruft Cortés’ jüngere Tochter Anna-Katharina – die mit Süssigkeiten gefüllten bunten Figuren aus Pappmaché dürfen auf keiner Geburtstagsparty fehlen.
Auch die Geschichte, wie sie als Reporterin zwei berüchtigte mexikanische Drogenhändler hinter Gitter brachte, und daraufhin unter anderem wegen der Morddrohungen gegen sie und ihre Familie nach Deutschland zog, erzählt Gabriela Cortés wie nebenbei. Schliesslich war das ihr Ziel als Journalistin: Sie wollte etwas verändern in Mexiko, und gegen die vorherrschende Korruption und die teils sehr schlechten Lebensbedingungen kämpfen. Auf die Frage, ob ihr das gelungen ist, wird sie nachdenklich: «Teilweise vielleicht schon. Aber wenn ich wirklich etwas erreicht hätte, sähe Mexiko heute bestimmt anders aus.»

Auf den Spuren der Familie

Die aktuelle Situation in Mexiko ist für Cortés ein Grund, froh zu sein, dass sie nicht mehr dort lebt. «Es hätte mich sicher frustriert, nicht mehr erreicht zu haben», sagt sie. «Als ich jung war, war ich voller Träume und Idealismus. Ich hatte vor nichts Angst.» Auch nicht davor, nach Deutschland auszuwandern, als die Zeit gekommen war. Dass sie durch ihre Recherchen gegen zwei Drogenhändler in Mexiko unter Druck geraten war, erleichterte die Entscheidung, auszuwandern. Den Traum, nach Deutschland zu gehen, hatte sie aber schon lange gehegt.

Die Reise nach Deutschland war für Gabriela Cortés eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln. Ihr Grossvater Hans Lawrenz war Berliner. Als 16-Jähriger kam er mit einem Segelschiff nach Mexiko. Weil kurz darauf der Erste Weltkrieg ausbrach, blieb er in Mexiko und lernte Cortés’ Grossmutter kennen. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Deutschland zurück, wo auch die drei jüngsten Kinder der Familie, die Schwestern von Cortés’ Mutter, aufwuchsen. Doch dann bekam die Grossmutter Heimweh, und das Ehepaar zog zurück nach Mexiko. Die Kinder blieben in Deutschland, um weiter die Schule zu besuchen. Doch wieder verhinderte ein Krieg die Rückkehr nach Deutschland. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, konnten weder die Eltern zu ihren Kindern, noch kamen die Kinder aus Deutschland raus. Eine Tragödie, die die Familie heute noch verfolgt. Die zwei jüngeren Schwestern mussten zwei Jahre in einem russischen Konzentrationslager verbringen, bevor sie zur Familie zurückkehren konnten. Die älteste Schwester wurde zwölf Jahre lang in Sibirien gefangen gehalten.

Um dieses Familientrauma aufzuarbeiten, wollte Gabriela Cortés nach Deutschland. Ihre Stimme wird ruhiger, wenn sie über Tía Anita – Tante Anita – spricht, die zwölf Jahre lang in russischer Gefangenschaft lebte. Um eine neue Perspektive auf die Geschichte ihrer Tante zu erhalten, besuchte sie Auschwitz. «Man fragt sich schon, ob man sich das wirklich antun will», erzählt sie. Aber das Erlebnis habe ihr einen neuen Blickwinkel eröffnet. Ausserdem besuchte sie die Menschen, die Tía Anita im Konzentrationslager kennengelernt hatte. «Da habe ich erlebt, wie tief eine Freundschaft gehen kann», sagt sie.
Seit Jahren schreibt sie an einem Buch über die Geschichte ihrer Familie und besonders ihrer Tante. «Sie war der selbstloseste Mensch, den ich kannte», sagt Cortés. «Weil sie selbst so viel gelitten hat.» Immer wieder muss sie das Schreiben unterbrechen, weil die Geschichte – ihre eigene Familiengeschichte – sie zu sehr mitnimmt.

Ein Leben mitten im Wald

Schreiben wollte Gabriela Cortés schon immer. An jeder Schule gründete sie eine Schülerzeitung. Sogar während eines Highschool-Jahres in den USA schrieb sie Artikel für die Schülerzeitung und die Lokalzeitung – obwohl ihr Englisch nicht perfekt war. Ermöglicht hatte ihr das ihr Gastvater, der sich abends mit ihr hinsetzte und die Artikel überarbeitete.
Wenn sie von ihrem amerikanischen Gastvater Roger Griffith erzählt, fangen ihre blauen Augen an zu strahlen. Man spürt, dieser Mann hat ihr Leben geprägt. Und das, obwohl er sich zunächst nicht einmal getraute, das 16-Jährige mexikanische Mädchen am Flughafen zu begrüssen. «Er hatte Angst, dass ich mich gleich wieder in den Flieger setzen würde, wenn ich ihn sähe.» Dabei schloss sie den bärtigen Hippie sofort ins Herz, als sie ihn sah. Genauso wie seine Familie, die das junge Mädchen mit ihrer pazifistischen Lebensweise prägte.
An die Ankunft in deren Haus kann Cortés sich noch genau erinnern: «Es lag mitten im Wald, und das Laub strahlte in allen Farben. Das mehrstöckige Holzhaus hatte die Familie selbst gebaut, die nächsten Nachbarn waren weit weg. Es war ein Traum.» Das Haus auf dem Foto sieht so unheimlich aus, dass manch einer wohl tatsächlich weggelaufen wäre, wie es der Gastvater befürchtete. Aber Gabriela Cortés freute sich nur auf das Abenteuer, das vor ihr lag.
Statt einem Türknauf schmückte die Eingangstür ein Bärenknochen. Alles war handgemacht, sogar die Fenstergläser. Mitten durchs Haus führte eine Treppe nach oben, in der Mitte lagen auf einer Galerie die Zimmer der Mädchen – nicht durch Wände getrennt, sondern durch Möbel. «Man kann sich ja vorstellen, was das für die Privatsphäre hiess», lacht Cortés.
Rückblickend sagt sie, dass sie in dieser Familie gelernt habe, noch selbstloser zu sein und noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Und sie schrieb Briefe, jeden Tag. An alle, die sie kannte, manchmal bis zu 32 Seiten pro Brief. «Ich hätte einen tollen Blog gemacht, wenn es sowas damals schon gegeben hätte!»

Liechtenstein anstatt Schweden

Einen tollen Blog könnte Gabriela Cortés auch heute noch schreiben. Man möchte stundenlang zuhören, wenn sie erzählt; eine Geschichte ist spannender als die andere. Nach über einer Stunde Gespräch hat sie noch kein Wort darüber verloren, wie sie nach Liechtenstein gekommen ist. Auf die entsprechende Frage antwortet sie: «Über Umwege!» «Durch Papi!», ruft Anna-Katharina, die den Geschichten ihrer Mutter genauso gespannt lauscht wie «la periodista», die Frau von der Zeitung, die zu Besuch ist.
Tatsächlich kam Gabriela Cortés durch ihren Mann nach Liechtenstein. Im Jahr 2001 lebt die Familie in Regensburg, wo sich die Mexikanerin mittlerweile heimisch fühlt. Doch dann bekommt ihr Mann verschiedene Stellenangebote, unter anderem ein sehr interessantes aus Schweden. Für Cortés ein Schock: «Schweden ist ein wunderschönes Land, aber einen ganzen Winter fast ohne Licht – das hätte ich nicht ausgehalten!» Also überzeugt sie ihren Mann davon, nicht gleich die erstbeste Stelle anzunehmen, die ihm angeboten wird. An Überzeugungskraft fehlt es der studierten Kommunikationswissenschaftlerin nicht: «Als PR-Frau kann ich alles gut verkaufen», lacht sie. Sie beginnt, die vorhandenen Stellenangebote zu sichten, aus Regensburg und Umgebung liegt aber keines vor – dort will sie eigentlich bleiben. Auch eine Stelle in Liechtenstein kommt in die engere Auswahl ihres Mannes. Dass es ihrem Mann dort aber so gut gefallen würde, dass er die Stelle annimmt und die ganze Familie mitnimmt, das hätte sie nicht gedacht. «Es war nicht das, was ich wollte», sagt sie immer noch etwas wehmütig. «Aber zumindest war es ein Schritt Richtung Süden statt Richtung Norden.»

Am schwierigsten war es für Gabriela Cortés, schon wieder die Ausländerin zu sein. In Deutschland hatte sie sich eingelebt, konnte mitreden und durch die Einbürgerung auch politisch mitbestimmen. «Dass meine Stimme als Ausländerin nicht zählt, das war und ist auch heute noch schrecklich für mich», sagt sie. Sie, die sich in Mexiko dagegen gewehrt hatte, nur das hübsche Moderations-Püppchen zu sein; sie, die immer etwas bewegen wollte, sollte nun wieder stumm sein. Das fällt Cortés schwer.
Noch immer ärgert sie sich über die «SPES I»-Abstimmung. «Da konnten so viele Eltern nicht mitbestimmen, deren Kinder auf Liechtensteiner Schulen gingen.» Und das, obwohl eine Studie des Liechtenstein Instituts gezeigt habe, dass Migrantenkinder vom aktuellen Schulsystem benachteiligt werden. «Man muss begreifen, dass Migrantenkinder es in Liechtenstein viel schwerer haben als zum Beispiel in Deutschland. Weil sie dort in der Schule eine Sprache lernen, die sie in ihrer Freizeit auch üben können.» Dass in Liechtenstein Dialekt gesprochen wird, mache es für viele Kinder und auch Erwachsene noch schwieriger, die Sprache schnell zu lernen.

Big Brohter is watching you

Cortés ist überzeugt, dass die Abstimmung anders ausgegangen wäre, wenn die Ausländer damals hätten mitbestimmen können. Sie begreift durchaus, dass man in Liechtenstein vor einer solchen Mitbestimmung Angst hat. Viele Entwicklungen seien aber nicht aufzuhalten: «Das Problem ist, dass der Zug nicht mehr gestoppt werden kann. Liechtenstein liegt mitten in Europa. Da muss man gewisse Entwicklungen mitmachen, sonst wird man überholt.» Sie ist überzeugt, dass die Mitbestimmung der Migranten in den Bereichen, die sie selbst betreffen, vieles vorantreiben könnte.

Obwohl sie in Liechtenstein wieder «die Ausländerin» war, lebte sich Gabriela Cortés in Eschen schnell ein. An ihre erste Begegnung mit einer Liechtensteinerin kann sie sich noch genau erinnern: «Ich ging zur Poststelle, um einen Brief abzuholen. Noch bevor ich mich vorstellen konnte, sagte die Frau am Schalter: ‹Ah, Sie müssen Frau Cortés sein, von der Dr. Albert-Schädler-Strasse Nummer 25?› Da dachte ich nur: Big Brother is watching you!». Gleichzeitig half es ihr, dass die Menschen in Eschen sie auf der Strasse erkannten und ansprachen. Und durch die Mitwirkung im Gesangverein Eschen wurde sie dann definitiv als Mitglied der Gemeinde aufgenommen.
Heute hilft Gabriela Cortés an der Universität Liechtenstein ausländischen Studenten, sich in Liechtenstein genauso wohlzufühlen wie sie sich selbst. Als Mitarbeiterin des International Office und Leiterin des Studentenwohnheims koordiniert sie ihren Aufenthalt und sorgt dafür, dass sie auch etwas vom Land sehen und Einheimische treffen, während sie in Liechtenstein studieren. Die Studenten sollen das Land so kennenlernen, wie die Mexikanerin es kennenlernte: gastfreundlich und offen. (ah)

 

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