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«Ich geniesse die schönen Momente intensiver»

Silvano Beltrametti gehörte zu den besten Abfahrern der Welt, bis ein tragischer Sturz im Jahr 2001 sein Leben radikal veränderte. Die Diagnose: Querschnittslähmung. «lifestyle» hat den heute 33-Jährigen getroffen und durfte einen Menschen kennenlernen, der sich mit viel positivem Denken und Sportsgeist zurück ins Leben gekämpft hat.

Herr Beltrametti, träumen sie manchmal noch davon, Skirennen zu fahren?
Silvano Beltrametti: In den vergangenen Jahren habe ich nie mehr davon geträumt. Das war häufiger der Fall, als die Erinnerungen an den Spitzensport noch frischer waren. Was ich heute aber noch habe, sind Träume, in denen ich mich als Fussgänger sehe und zum Beispiel über ein Bachbett springe.

Schmerzt es, gerade durch lästige Journalisten wie mich immer wieder an Ihre Vergangenheit ohne Rollstuhl erinnert zu werden?
Eigentlich nicht. Ich sehe es einfach als einen Lebensabschnitt, der jetzt beendet ist. Früher war ich Spitzensportler und aus dem Sport konnte ich sehr viel für die Zeit nach dem Unfall «herausziehen» – im Sinne einer Lebensschule, die ich in meinem neuen Leben brauchen kann.

Was genau haben Sie aus jener Zeit mitgenommen?
Im Sport lernt man, sich genaue Ziele zu setzen. Man lernt, mit Niederlagen umzugehen und unter Erwartungsdruck Leistung abzurufen. Ausserdem lernt man, auch mal ein Problem als eine Chance anzusehen. Das sind alles Komponenten, die man sowohl im Berufsleben wie auch im Privatleben nutzen kann, um sich weiterzuentwickeln und im Leben vorwärtszukommen. Das hat mir sicher sehr geholfen.

Sie sind zu einem Vorbild für viele Menschen geworden, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Macht Sie das stolz – oder sehen Sie es vielleicht sogar als eine Ihrer Aufgaben an, anderen Menschen Mut zu geben?
Es ist natürlich schön, wenn man spürt, dass man irgendwo ein Vorbild ist und anderen Menschen helfen kann. Das macht mich schon stolz. Ich werde heute oft von Menschen angesprochen, die sagen, dass sie in schweren Momenten an mich gedacht haben und daraus neue Kraft schöpfen konnten. Dass ich für sie in diesen kleinen Momenten wie eine Initialzündung war, um den Schritt nach vorne zu machen. Das ist ein gutes Gefühl.

Wenn man Artikel über Sie liest, wird immer wieder von dem «Leben vor dem Unfall» und dem «Leben nach dem Unfall» geschrieben. Sehen Sie Ihr Leben selbst auch als zweigeteilt?
Schliesslich ist das Leben verpackt in einem Ganzen. Da gehören fünf bis sechs grosse Schlüsselerlebnisse dazu, die für einen Menschen sehr prägend sind und grosse Veränderungen nach sich ziehen. Natürlich war für mich der Unfall, durch den ich in den Rollstuhl gekommen bin, eines dieser Schlüsselerlebnisse. Aber es gibt in meinem Leben noch viele andere wichtige Eckpfeiler. Was für mich zählt, ist die Entwicklung in den vergangenen 30 Jahren und was ich in dieser Zeit alles erlebt habe. Es gab den Spitzensport, dann kam der Unfall und auch in den vergangenen 10 Jahren ist wieder enorm viel in meinem Leben passiert. Immer wieder habe ich mich zurückgekämpft, mir neue kleine Ziele gesetzt und neue Sachen erfahren dürfen – privat und beruflich. Die Gesamtheit der Ereignisse prägt mein Leben und meine Persönlichkeit.

Sie sagen, dass Sie sich immer wieder zurück ins Leben gekämpft haben. Hat Ihnen dieser Kampfgeist damals auch geholfen, sich nach der erschütternden Diagnose der Ärzte wieder aufzurappeln?
Ich bin grundsätzlich ein sehr positiv denkender Mensch, der sein Schicksal ziemlich schnell annehmen konnte. Ich sagte mir: Es ist nun mal so. Was soll ich machen? Ich mache mich unzufriedener, wenn ich mit dem Schicksal hadere und die ganze Zeit nach dem «Warum» frage. Es bleibt mir eh nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.

Dann kam der Fall in das tiefe Loch bei Ihnen nie?
Natürlich ist es ein Prozess, während dem man lernt, die Vergangenheit loszulassen. Dieser Prozess kann drei oder vier Monate gehen, er kann aber auch ein Jahr oder länger dauern. Wichtig ist auf jeden Fall, dass man bereits in den ersten Wochen beginnt, sich mehr mit dem Jetzt und der Zukunft auseinanderzusetzen, als ständig in der Trauerzeit zu verharren. Da gab es bei mir ein paar sehr prägende Momente. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Erlebnis auf der Intensivstation. Hinter mir lag ein 14-jähriges Mädchen, das vom 5. Halswirbel an abwärts gelähmt war. Dieses Mädchen wird nie mehr eine Hand bewegen können, nie mehr allein essen oder auf die Toilette gehen können. In solchen Momenten hadert man nicht mehr mit dem eigenen Schicksal, sondern ist einfach nur froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist.

Welches waren Ihre ersten Anstrengungen zurück ins Leben?
Ich begann ziemlich schnell wieder nach einer Selbstständigkeit im Alltag zu streben. Wichtig ist, dass man sich Ziele setzt und kleine Erfolgserlebnisse hat. Das beginnt beim Anziehen eines T-Shirts. Man hat zwei Möglichkeiten. Entweder setzt man sich das Ziel, dass man es in zwei oder drei Tagen alleine schafft oder man verfällt ins Selbstmitleid und sagt: Ich bin der Ärmste und kann nicht mal ein T-Shirt anziehen. Das ist der falsche Weg – in jeder Situation. Natürlich darf man auch mal Schwäche zeigen und eine Trauerzeit haben. Und man darf auch mal sagen: Jetzt mag ich nicht. Aber es nützt nichts, immer Mitleid mit sich selbst zu haben. Wenn man will, kann man in jeder Lebenssituation noch irgendetwas erreichen.

Glauben Sie an Gott beziehungsweise einen tieferen Sinn hinter den Dingen?
Ich bin kein extremer Kirchengänger, aber ich bin ein gläubiger Mensch.

Hat Ihnen dieser Glaube damals geholfen?
Sicher. Ich glaube, dass wir in gewissen Momenten geführt werden und uns Kraft gegeben wird. Vor allem in der ersten Zeit nach dem Unfall war dieser Gedanke eine wichtige Stütze für mich, das Gefühl zu haben, dass der da oben mir einen Rucksack aufgebürdet hat – aber nur einen, den ich auch tragen kann. Diesen Glauben verbinde ich mit Hoffnung. Und mit dem Glauben sind auch Augenblicke verbunden, in denen man nach oben blickt und sagt: Kannst du mir nicht helfen? Ich bin überzeugt, dass ich in gewissen Momenten auch Kraft von oben bekommen habe, um wieder nach vorne zu blicken – eine Kraft, die ich ansonsten vielleicht nicht gehabt hätte.

Gab es auch Personen, die Sie in der damaligen Zeit speziell unterstützt haben?
Während der Unfallzeit hatte ich ein extrem gutes Umfeld mit meiner Familie und guten Freunden, die mir beigestanden sind. Es ist sehr wichtig, dass man in solchen Momenten ein gutes Umfeld hat, das dich zwischendurch auch mal aus dem Loch reisst, dich motiviert, dir hilft und Anteil nimmt. Meine jetzige Frau Edwina habe ich erst nach dem Unfall kennengelernt. Sie war für mich in den letzten Jahren eine enorme Stütze und eine Person, mit der ich extrem viel erleben und gemeinsam gestalten durfte.

Als Sie sich wieder aufgerappelt haben, begannen Sie, im Bereich Sportmanagement als Projektleiter Events zu arbeiten und machten nebenbei die Ausbildung zum technischen Kaufmann. Heute sind Sie OK-Präsident der Weltcuprennen in Lenzerheide. Offenbar ist die Verbundenheit mit dem Skisport geblieben.
Diese Verbundenheit ist immer noch stark. Oft werde ich gefragt, warum ich nicht an den Paralympics teilnehme bzw. wieder Spitzensport betreibe. Meine Antwort lautet immer: Ich habe den Spitzensport erlebt und wollte nach dem Unfall als junger Sportler noch irgendetwas anderes auf die Beine stellen. Indem ich gemeinsam mit einem guten Team Weltcuprennen organisieren kann, bleibe ich dem Sport beruflich enorm verbunden. Heute finde ich die grosse Challenge und Herausforderung in diesem Bereich. Ich verspüre nicht mehr den Drang, die Piste runterzufahren und mich mit anderen messen zu müssen. Der Tunnelblick aus dem Spitzensport hat sich geweitet und ich betrachte das Ganze heute aus einer anderen Sicht.

Dann kommt der «wilde Hund» von früher nicht mehr zum Vorschein, wenn Sie heute mit dem Monoski unterwegs sind?
Doch, natürlich. Der wird mir wohl immer im Blut bleiben (lacht). Natürlich will ich mich ständig verbessern, wenn ich mit dem Monoski unterwegs bin. Dann setzte ich mir zum Ziel, dass ich das nächste Mal die eine oder andere Kurve noch enger fahre und hier und da technisch noch etwas verfeinern könnte. Aber ich habe nicht mehr den Drang, um jede 100stel Sekunde zu «fighten». Es geht mir um die persönliche Weiterentwicklung. Ähnlich ist es im Sommer, wenn ich als Handbiker den Berg hinauffahre. Klar will ich im August nicht langsamer sein als im April, wenn ich das erste Mal auf dem Bike sitze. Diesen Ehrgeiz habe ich und meine Fitness ist mir wichtig.

War es schwer, das Monoskifahren zu lernen? Oder ist das für einen ehemaligen Skiprofi ein Klacks?
Das Gefühl vom Schnee und vom Carven in einer Kurve ist dasselbe. Aber die Technik ist natürlich komplett anders. Ich musste wieder bei Null anfangen. Ich fuhr mit dem Kinderlift hoch und kippte bereits nach zwei Metern um. Das waren harte Momente. Da hatte ich früher den Skisport so beherrscht und war einer der Besten in dem Bereich und dann begann ich wieder von ganz unten. In diesen Momenten gab es auch Zweifel und ich fragte mich: Was mache ich da überhaupt? Aber es war sehr wichtig, dass ich durchgehalten habe. Denn das Gerät bekommt man relativ schnell in den Griff, wenn man motorisch ein wenig begabt ist. Ich geniesse es heute sehr, gemeinsam mit Kollegen eine Wintersportart ausüben zu können – auch wenn das Gerät nicht genau dasselbe ist. Das ist einfach genial.

Heute sind Sie Hotelier und führen seit 2009 das familieneigene Hotel mit Ihrer Frau Edwina. Ein völlig neuer Bereich in Ihrer beruflichen Laufbahn. Wie gefällt Ihnen das Wirteleben?
Es gibt sehr schöne Seiten als Hotelier, es gibt aber auch Seiten, die anstrengend sind. Im Grossen und Ganzen ist es einfach wichtig, dass sich die Waagschale im Gleichgewicht hält, und es mehr Tage gibt, an denen man zufrieden ist und Spass an der Arbeit hat.

Welche Seiten als Hotelier gefallen Ihnen am besten?
Ich bin ein Typ, der gerne organisiert, im Hintergrund plant und anschliessend die Leute führt. Darunter fällt die Organisation von Banketten, Geburtstagen, Hochzeiten oder anderen Anlässen – einfach alle Tätigkeiten, die vom Büro aus ausgeführt werden.

Und was ist nicht so Ihr Ding?
Was ich nicht so bin, ist ein Mensch, der sich oft bei den Gästen draussen aufhält. Das kommt sicher auch daher, dass ich immer angesprochen werde und mit den Leuten immer das Gleiche diskutieren muss. Deshalb verbringe ich gewisse Zeiten lieber im Büro.

Sie sind Sternzeichen Widder. Man sagt ihm nach, dass er zielstrebig, diszipliniert und leidenschaftlich ist, aber auch ungeduldig, stur und aufbrausend. Wie viel Widder steckt in Ihnen?
Ich bin ein sehr zielstrebiger Mensch, aber meine Frau sagt ganz klar, dass ich zwei Hörner habe.

Können Sie so richtig explodieren?
Das kann ich. Es gibt gewisse Situationen, in denen ich explosiv und auch laut werden kann.  In dieser Hinsicht habe ich vielleicht noch ein wenig das Italienerblut in mir, das man im Namen Beltrametti erkennt.  Aber auch wenn ich einen harten Schädel habe, bin ich doch auch ein positiver und herzlicher Mensch mit einem weichen Kern. Ich kann auch mal als Gehörnter zugeben, dass ich falschliege. Allerdings bin ich erst einsichtig, wenn die andere Person mich wirklich ganz und gar von ihrer Meinung überzeugt hat – da spüre ich den Widder deutlich in mir.

Wenn Sie zurückblicken – hat der Unfall Ihr Leben auch in irgendeiner Weise zum Guten verändert?
So hart es ist, querschnittsgelähmt zu sein, im Rollstuhl zu sitzen und dadurch enorm viele Hindernisse im Leben zu haben, sehe ich den Unfall heute durchaus auch als positiv an. Ich kann dadurch viel besser mit Problemen umgehen, habe gelernt, die schönen Momente im Leben viel intensiver zu geniessen und nichts mehr im Leben als selbstverständlich anzusehen. Und ich bin reifer an Erfahrungen geworden durch den Weg, den ich zurückgelegt habe. Ich trage einen Rucksack mit mir, in dem Leben drinsteckt – ein Leben, in dem etwas passiert ist.

Haben Sie spezielle Ziele oder Träume, die Sie in Ihrem Leben unbedingt noch erreichen wollen?
Ich habe auf der einen Seite berufliche Ziele. Meine Frau und ich wollen den Familienbetrieb erfolgreich weiterführen und weiterentwickeln. Eine sehr grosse und schöne Aufgabe. Auf der anderen Seite gibt es die privaten Ziele in Bezug auf mein Umfeld und meine Freunde, mit denen ich noch viel ausprobieren und erleben will. Gesamthaft betrachtet hege ich den Traum, mich einmal als alter Mann zurücklehnen zu können und auf ein Leben zurückzublicken, in dem ich viel erlebt habe, viele Höhen und Tiefen durchgemacht und viele Herausforderungen gemeistert habe – und dann sagen zu können: Es war ein erfülltes Leben. (Interview: ne)

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Artikel: http://www.vaterland.li/importe/archiv/magazin/ich-geniesse-die-schoenen-momente-intensiver-art-80409

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