«Marokko hat mir die Augen geöffnet»
Sofa, Kissen und Lampen im orientalischen Stil zieren den Eingangsbereich des Nagelstudios von Renata Vetsch in Grabs. Auf dem Salontisch liegen Reiseberichte von Marokko anstatt Modezeitschriften. Auf der Theke stehen neben diversen Nagelprodukten kleine Flaschen Arganöl – das sogenannte flüssige Gold aus Marokko – und eine Getränkedose mit der Aufschrift «Lebensmittelpakete». Die Geschäftsführerin von «Nails and More» macht keinen Hehl aus ihrer Leidenschaft für Marokko. Selbst der Blick auf die Angebotsliste verrät, wie viel die Nageldesignerin von der arabischen Kultur hält: «Ich biete auch marokkanische Kosmetik an und entferne unerwünschte Körperhaare mit Halawa, einer Zuckerpaste.» Diese natürliche und schonende Art der Haarentfernung hat sie auf ihren unzähligen Reisen nach Marokko von einheimischen Frauen gelernt.
Schwierige Vergangenheit
Zum ersten Mal reiste Renata Vetsch vor fünf Jahren nach Marokko, um eine ehemalige Arbeitskollegin zu besuchen. Nachdem sie eine Woche bei ihrer Freundin verbracht hatte, wusste sie bereits auf dem Heimflug, dass sie wiederkommen würde. «In Marokko sind die Menschen sehr offen und freundlich. Sie akzeptieren ihre Mitmenschen – egal, wer sie sind oder was sie haben. Wenn man in der Schweiz oder Liechtenstein nicht in das gängige Schema passt, ist mansofort abgestempelt», spricht die gelernte Coiffeuse aus Erfahrung. Sie selbst hat eine schwierige Vergangenheit hinter sich. Aufgewachsen in Basel, zog sie als junge Frau für ihre erste grosse Liebe nach Grabs. Die Ehe ging wenige Jahre später in die Brüche. Kurz darauf verunglückte einer ihrer beiden Söhne im Alter von sieben Jahren tödlich. «Damals wurden Angehörige von Todesopfern noch nicht so gut wie heute betreut. Ich musste alleine damit fertig werden und für meinen zweiten Sohn weiterleben.» Grosse Unterstützung erhielt sie dabei von ihrem zweiten Ehemann, mit dem sie mittlerweile seit 25 Jahren verheiratet ist und eine gemeinsame Tochter hat.
Wohnung in Marokko
Renata Vetsch schwärmt: «Noch heute steht mein Mann in allen Dingen voll und ganz hinter mir, was ich sehr schätze.» Sogar als sie ihm nach ihrem zweiten Besuch in Marokko beichten musste, dass sie kurzerhand eine Wohnung in Tamraght – das 20 Kilometer nördlich von Agadar liegt – gemietet hat, zuckte er nicht einmal mit der Wimper. «Er kennt mich mittlerweile. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, kann ich es nicht früh genug umsetzen», fügt sie lachend hinzu. Damals wusste sie zwar noch nicht genau, was in Marokko auf sie zukommen wird, aber sie hatte das Gefühl, das Richtige zu tun. Zudem lernte sie durch eine Kollegin aus Innsbruck einen Marokkaner kennen, der ihr das Land und die Kultur noch näher brachte. «Er öffnete mir sozusagen die Augen.»
Mit wahrer Armut konfrontiert
Als Renata Vetsch zum ersten Mal die Familie des neuen marokkanischen Bekannten besuchte, war sie zutiefst schockiert: Seine Familie und Verwandten wohnen in Häusern hinter einer Geröllhalde. Die viereckigen Betonklötze sind nur mit einer Glühbirne und Wolldecken ausgestattet, die als Sofa und Bett dienen. Kinder, die eigentlich in die Schule gehören, sitzen spärlich bekleidet auf dem Boden. Ein Vater erzählte ihr, dass er die Kinder normalerweise in die Schule schicke, sie momentan aber nichts zum Anziehen hätten, weil die Kleidung gerade gewaschen werde. «Als ich seine Familie in Marokko besucht habe, wurde ich das erste Mal mit wahrer Armut konfrontiert.»
Die damals 50-Jährige hatte bei ihren bisherigen Aufenthalten im Land viele Obdachlose und Bettler auf der Strasse gesehen, aber bei diesem Anblick fühlte sie sich zum ersten Mal persönlich betroffen: «Während mein Kleiderschrank aus allen Nähten platzt, haben andere Menschen nicht einmal ein zweites Paar Hosen, um in die Schule zu gehen.» Dieser Gedanke liess sie nicht mehr los. Sie entschied sich, etwas dagegen zu unternehmen.
Ferien gegen Platz im Koffer
Renata Vetsch begann ganz unkompliziert mit der gemeinnützigen Arbeit. Sie reiste alle drei bis vier Monate nach Marokko und füllte ihren Koffer – anstatt mit ihren persönlichen Sachen – mit Kleidern, Schuhen und Schulmaterial für die Kinder vor Ort. Doch der Platz in ihrem Koffer war beschränkt. Es war unmöglich, das ganze Material, das sie gesammelt hatte, zu transportieren. Sie offerierte daher ihren Verwandten und Bekannten, ihre Ferien kostenlos in ihrer Wohnung in Marokko zu verbringen – sofern sie ihren Koffer für den Transport weiterer Hilfsmittel zur Verfügung stellten. Diese Aktion sprach sich schnell herum, sowohl in Marokko als auch im Heimatort von Renata Vetsch, in Grabs: Auf der einen Seite wurde sie von immer mehr marokkanischen Familien um Hilfe gebeten, auf der anderen Seite brachten ihr immer mehr Leute Hosen, Pullover, Schuhe, Papier und Stifte für die arme Bevölkerung in Marokko. «Ich stiess bald an meine Grenzen, weil sich die zahlreichen Schachteln zu Hause stapelten und ich nicht wusste, wie ich das ganze Material nach Marokko transportieren sollte.»
Spenden kommen an
Wie es der Zufall wollte, kam Renata Vetsch bei einer Rückreise an eine Tankstelle in Genf mit einem Marokkaner ins Gespräch. Sie erzählte ihm von ihrem «Ein-Frau-Betrieb» und gab ihm die Visitenkarte ihres Kosmetikstudios in Grabs. Tatsächlich erhielt sie zwei Tage später einen Anruf eines Herrn aus Solothurn, der sich ihr als Transporteur zur Verfügung stellte. Seither lagert sie die Bananenschachteln voll Kleidung für ihre marokkanischen Freunde zu Hause in ihrem Büro. Ist das Zimmer voll, kontaktiert sie ihren Transporteur, der ihr für 5 Franken pro Kilo das Material nach Marokko transportiert. Anschliessend ruft sie den Vermieter ihrer Wohnung an, damit dieser die Ware in Empfang nimmt und in ihrer Garage lagert.
Sie erzählt: «Das Einzige, was ich ihm jeweils sage, ist, wann der Transport in der Schweiz startet. Über Menge und Inhalt gebe ich ihm keine Auskunft. Diese muss er mir nämlich nennen, sobald die Ware bei ihm angekommen ist. So kontrolliere ich, ob unterwegs nichts verloren geht.» Renata Vetsch geht damit auf Nummer sicher, dass die gespendeten Sachen genau dort ankommen, wo sie benötigt werden. «Es geht nicht darum, dass ich den Marokkanern nicht traue. Aber wer würde nicht in Versuchung geraten, unterwegs etwas mitgehen zu lassen, wenn man selbst zu wenig Geld und Kleidung für seine Familie hat?»
Verein zur finanziellen Unterstützung gegründet
Renata Vetsch schätzt sich glücklich, dass sie mit der Spendenaktionbisher nur positive Erfahrungen gemacht hat. Wenn sie nach Marokko reist, um die Schachteln in ihrer Garage unter der Bevölkerung zu verteilen, hat bisher noch nie etwas gefehlt. Und auch in der Schweiz werde sie nicht als «Abfallentsorgungsstelle» missbraucht, wie sie sagt: «99 Prozent der Sachen, die ich bekomme, kann ich gebrauchen. Schön wäre nur, wenn man die Säcke, die man mir vors Geschäft oder die Haustüre legt, anschreiben würde, damit ich mich wenigstens dafür bedanken könnte.»
Mittlerweile lässt sie pro Jahr rund eine Tonne Material nach Marokko transportieren. Da sie den finanziellen Aufwand als Naildesignerin auf Dauer nicht alleine tragen kann, hat sie mit ihrem Mann und zwei Kolleginnen aus Liechtenstein im Mai 2011 den Verein «Al-Nour Pro Marokko» gegründet. Zurzeit benötigt Renata Vetsch Spenden, um den nächsten Transport finanzieren zu können und den Lohn einerKöchin sicherzustellen. «In Agadir plane ich gerade eine Suppenküche für diejenigen Schulkinder, die aufgrund mangelnden Geldes für Essen nicht in die Schule gehen können.» (hl)
Steckbrief
Name: Renata Vetsch
Wohnort: Grabs, aufgewachsenin Basel
Alter: 55
Beruf: Gelernte Coiffeuse und Naildesignerin
Hobbys: Hund Ria, Skifahren
Leibspeise: Alles ausser Innereien
Getränk: Kaffee und Red Bull
TV-Vorliebe: Schwarz-Weiss- und Dokumentarfilme
Musik: Alles ausser Jazz und Volksmusik
Lektüre: Biografien und Krimis
Stadt/Land? Stadt
Sommer/Winter? Sommer
Ort: Agadir und Samnaun
Stärke: Durchhaltevermögen
Schwäche: Ungeduld
Kontakt: www.al-nour-pro-marokko.ch und nailsandnature.ch
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«Liewo-Porträt»