«Ich war eifersüchtig auf meine Konkurrenten»
Schon eigenartig, dass ein ehemaliger Skirennläufer den Sommer lieber mag als den Winter. Darüber muss Marc Girardelli sogar selber schmunzeln: «Ich würde sagen, ich habe lange genug gefroren», so seine Erklärung. 17 Jahre lang war er als Profi auf allen Pisten der Welt unterwegs. 100-mal sah man ihn auf dem Siegerpodest. Dabei fuhr er 46 Weltcupsiege ein und holte 11 WM- sowie zwei olympische Medaillen. Und stellte vermutlich einen Rekord für die Ewigkeit auf: Fünfmal wurde er Sieger des Gesamtweltcups. Nur Alberto Tomba, einer seiner ewigen Rivalen aus den 90ern, konnte ähnliche Ziele realisieren. Doch nicht nur Tomba klebte Girardelli stets an den Fersen, harte Zweikämpfe lieferte er sich auch mit Pirmin Zurbriggen. «Es war ein stetiger Kampf – gegen mich selbst und meine Konkurrenten.» Schliesslich habe ja keiner freiwillig die Piste geräumt.
Er habe sich in den Jahren alles abverlangt – sowohl körperlich als auch psychisch. «Ich habe meinen Körper sozusagen vergewaltigt. Es gab keine Kompromisse – alles war meinem Willen untergeordnet.» Und mit «alles» meint Girardelli nicht nur das Körperliche. Sein ganzes Leben richtete sich nach dem Skisport und dem verbissenen Kampf, Titel um Titel zu holen.
Wenn der OP-Saal ruft
Mit den körperlichen Folgen kämpft Marc Girardelli heute – 15 Jahre nach seinem Rücktritt – immer noch. 1983 reisst er sich bei der Abfahrt in Lake Louis alle Bänder und einige Sehnen im linken Knie, sechs Jahre später, beim Super-G von Sestriere, holt ihn das Verletzungspech erneut ein. Nur knapp schlittert er an einer Querschnittlähmung vorbei. Doch er macht weiter. «Aufgeben stand für mich nie zur Diskussion.»
Bis heute hat der gebürtige Lustenauer 18 Operationen hinter sich. «Mittlerweile fühle ich mich im Operationssaal schon fast wohl», scherzt er. Ob es das alles wert war? «Ich kenne Leute, die ihr Leben lang nie Sport getrieben haben und denen es körperlich schlechter geht als mir.»
«Die hatten Angst vor mir»
Für seine Karriere bedeuteten all die Verletzungen auch etwas Gutes. Seine Konkurrenten, deren Trainer und Funktionäre rieten ihm ständig, aufzuhören und sich einen neuen Job zu suchen. Für Girardelli war instinktiv klar:?«Die hatten einfach nur Angst vor mir.» Damit erwiesen sie ihm schlussendlich einen grossen Dienst. «Ich drückte noch mehr aufs Gas und war noch schneller.»
Ein goldener Abschluss
Doch irgendwann reichte es nicht mehr. Sein Körper war ausgelaugt. Nach der schweren Rückenverletzung konnte Marc Girardelli 1991 zwar die grosse Kugel wieder zurückerobern und mit dem Slalom-Gold bei der WM in Saalbach die Saison abrunden, doch fuhr er stets begleitet von Schmerzen. 1993 schaffte er dann nochmals den grossen Wurf mit der fünften grossen Kugel, was bis heute unerreicht blieb. Die Goldmedaille an der WM in Spanien 1996 läutete dann das Ende seiner Karriere ein. «Die Schmerzen waren zu gross. Ich konnte nicht mehr trainieren, war mehr oder weniger in Rehabilitation – es machte einfach keinen Sinn mehr.»
Körperlich gezeichnet und schweren Herzens beschliesst er, im Alter von nur 33 Jahren dem Skizirkus, zumindest als aktiver Rennläufer, den Rücken zu kehren. «Das war nicht geplant, ich wollte noch nicht gehen», schaut er ein wenig wehmütig zurück.
Der Junge kann was
Seine Karriere entstand eher zufällig, wie Girardelli es heute bezeichnen würde. Im Kindergartenalter beginnt er mit dem Skifahren. Sein Vater, selbst ehemaliger Skirennläufer, merkt schnell, dass in seinem Sohn ein Talent steckt. «Ich bin immer im Schuss gefahren», weiss er noch gut. Bereits im Alter von fünf Jahren bestreitet er seine ersten Rennen, wobei er zwei bis drei Jahre ältere?Kinder problemlos vom Treppchen stösst. Da ist klar: der Junge kann was. Doch die Entwicklung hatte kein bestimmtes Ziel. «Auch mit 10 Jahren hatte ich nicht den Weltcup im Kopf – ich schaute nur von Jahr zu Jahr.» Doch langsam wächst in ihm eine Kämpfernatur heran, die unaufhaltsam stärker wird. Sein Vater trainiert und pusht ihn – er will seinen Sohn ganz oben sehen. Vielleicht deshalb, weil er es selbst nie geschafft hatte.
Ein holpriger Weg
Dann passiert etwas, das Marc Girardellis Leben in eine holprige Bahn lenkt. Funktionärsprobleme im Landesskiverband und im ÖSV veranlassen seinen Vater 1976, den Verband zu wechseln. «Mein Vater wollte mich in einem kleineren Verband sehen, in dem ich mehr gefördert werde», erklärt Girardelli. Warum sein Vater ihn gerade nach Luxemburg, das bis dato in der Skination unbekannt ist, schickt und nicht nach Italien (Herkunftsland) oder gar nach Liechtenstein, hat folgende Gründe: «Auch diese Skiverbände waren damals schon zu gross.» Zudem haben die Girardellis zu den Luxemburgern ein gutes Verhältnis – die Unterstützung ist ihnen sicher. «Das war wohl der Hauptgrund, warum sich meine Eltern für Luxemburg entschieden haben.»
In Luxemburg ist Marc Girardelli alleine. Keine Teamkollegen, keine sportlichen Vergleiche. Er wundere sich heute noch, wie er es all die Jahre alleine ausgehalten habe, denn «eigentlich bin ich ein Teamplayer». Doch er hat keine Wahl. Die Umstände, die bei einem anderen Jungen in diesem Alter vielleicht für Resignation gesorgt hätten, wecken bei dem 12-jährigen Girardelli einen aussergewöhnlichen Ehrgeiz. Er will es allen zeigen.
Erfolgreicher Aussenseiter
Und das macht er auch. Innerhalb von drei Jahren kämpft er sich in die 2. Gruppe im Weltcup vor. 1981 fährt der Lustenauer in Wengen bereits auf Platz 2 und steht erstmals auf dem Podest. Es geht weiter aufwärts. Der erste Sieg in Schweden, vor Stenmark, ist einer der emotionalsten Momente in seiner Karriere. «Ich habe mit eineinhalb Sekunden vor allen Slalomspezialisten überlegen gewonnen – das war fantastisch.» Auch der erste Abfahrtssieg in Kitzbühel und Wengen gehören zu seinen grössten Highlights.
Doch etwas trübte seine Siegesserie: Während seiner ganzen Karriere hat er nur ein einziges Transparent von zwei jungen Frauen aus Oberegg/Appenzell Innerrhoden gesehen. «Ich muss gestehen, ich war oft eifersüchtig auf meine Konkurrenz und fühlte mich ein wenig wie ein Aussenseiter.» In Österreich galt Girardelli als Vaterlandsverräter, für die Schweizer war er ein rotes Tuch, weil er Zurbriggen die Ränge abfuhr. Es sei hart gewesen, ins Ziel zu kommen und nur von Vater und Servicemann einen Schulterklopfer zu bekommen, auf dem Podest zu stehen und vergeblich auf den Applaus zu warten. «Der Genuss zum Gewinnen blieb mir in dieser Hinsicht leider verwehrt.» Doch nichtsdestotrotz tat dies seiner Siegesserie keinen Abbruch.
Vater-Sohn-Produktion
Die Willensstärke hat Marc Girardelli wahrscheinlich von seinem Vater. Die beiden galten während seiner Karriere als eingespieltes Team. Er selbst bezeichnet das damalige Verhältnis zu seinem Vater eher als «Zweckgemeinschaft». «Er brauchte einen Rennläufer und ich einen Trainer.» Heute ist der Kontakt zu seinem Vater eher spärlich. Denn seit dem Verkauf der Skihalle in Bottrop, die Girardelli finanziell nicht gut bekam, haben die beiden verschiedene Interessen. «Ich hatte 120 Mitarbeiter, war für den Job viel zu gutmütig und die Arbeitseinstellung im Ruhrpott war nicht so, wie man es sich hier vorstellt», erklärt er. So verkaufte er 2004 das Alpincenter und Vater und Sohn gingen getrennte Wege. Bereut habe er bisher keine seiner Entscheidungen. Er wollte immer etwas Neues ausprobieren. «Ich war nie ein Zauderer, wie viele vielleicht meinen. Ich habe mich immer für etwas entschieden, und wenn es dann nicht geklappt hat, war ich zumindest um eine Erkenntnis reicher.»
Mittlerweile ist er erfolgreicher Unternehmer der Skibekleidungsfirma «Marc Girardelli Skiwear», organisiert Ski-Events in der Grösse von bis zu 200 Personen, hält Vorträge über Riskmanagement, Motivation oder auch über den Umgang mit Angst und Problemen.
Eine Rechnung ist noch offen
Für den kommenden Winter sieht Marc Girardelli den Schweizer Carlo Janka ganz weit vorne. «Auch wenn er in den USA?noch nicht punkten konnte, denke ich, dass er heuer wieder, wenn er denn gesund ist, ganz vorne mit dabei sein wird. Sein Fahrstil ist fantastisch, ganz ruhig und sehr kompakt.» Auch über den Schweizer Didier Cuche staunt Girardelli. 10 Jahre sei er nicht vom Fleck gekommen und jetzt gebe er plötzlich Gas. «Den muss man wahrscheinlich mit 50 erschlagen, sonst hört der doch nie auf», lacht er.
Und wie ist das Verhältnis zu Büxi? Bei einer Wette 2008 – untaillierte, lange Latten gegen Carving-Skier – gewann Girardelli mit 4 Sekunden Vorsprung. Er war sich von Anfang an sicher, dass er die Wette gewinnt. Büxi kam mit den langen Latten gar nicht klar und Girardelli wedelte mit den Carving-Skier den Berg hinunter, als wäre er immer noch aktiv im Rennsport. Und was war der Wetteinsatz? «Büxi schuldet mir immer noch ein Abendessen!» (jg)
Steckbrief
Name: Marc Girardelli
Wohnort: Rebstein
Alter: 48
Zivilstand: Verheiratet, 4 Kinder
Beruf: Unternehmer
Hobbys: Skifahren, Wandern, Rad, Helikopterfliegen, Kuba Club
Leibspeise: Reisauflauf
Getränk: Brunello (Rotwein)
TV-Vorliebe: knappe Nachrichten und interessante Dokus
Musik: Pink Floyd, Rolling Stones, Bocelli, Beethoven, Chopin
Lektüre: Biografien, Geschichte, Quantenphysik etc.
Stadt/Land? Land
Sommer/Winter? Sommer
Ort: Dreiländereck
Stärke: Kommunikativ
Schwäche: Süssigkeiten
Motto: «Ich bereue nur das, was ich nie ausprobiert habe.»
Kontakt: www.marc-girardelli.com
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