«Ich hatte den Wunsch, darüber zu sprechen»
Es geschah an einem Freitag im April 2004. Karin Thaler war gerade zu Besuch bei ihren Eltern. Sie sass am Küchentisch und las eine Zeitung, als plötzlich das Telefon klingelte. Auf der anderen Seite der Leitung war eine Bekannte. «Mike ist etwas zugestossen», waren ihre Worte. Sofort begab sich die besorgte Mutter auf den Weg zu ihrem Sohn.
An jenem Freitag war der 15-jährige Mike mit seinen Freunden auf Oberplanken. Ihr Plan war, gemeinsam die Nacht in einem Zelt zu verbringen. Gegen 18 Uhr wanderten einige der jungen Erwachsenen – darunter auch Mike – in Richtung «Efiplankatobel». Auf dem Weg dorthin betraten sie jedoch steiles, unbefestigtes Gelände. Als Mike und ein Freund sich auf den Rückweg zum Zeltplatz machten, glitt der junge Plankner auf der steilen Böschung aus und rutschte unaufhaltsam talwärts. Er stürzte dabei über einen 12 Meter hohen Abgrund und blieb rund 200 Meter unterhalb der Absturzstelle liegen.
Als Karin Thaler in die Nähe des Unfallorts kam, war ihr Sohn bereits im Rega-Helikopter Richtung Landesspital Vaduz. Mikes Freunde und Mitglieder der Einsatzkräfte nahmen die Mutter des 15-Jährigen in Empfang. Sie überbrachten ihr jene Nachricht, die ihr Leben radikal verändern sollte: «Mike ist tot.» Bei dem tragischen Umfall verletzte sich der Jugendliche nämlich derart schwer am Kopf, dass er noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen erlag.
Ein realer Alptraum
Anfangs war es der Schock, der Karin Thaler einfach funktionieren liess. «Später wechselten sich Empfindungen wie Verzweiflung, Wut und absolute Gefühlslosigkeit ab», berichtet sie. Es ist schwierig, die Wirklichkeit eines solchen Verlustes zu begreifen. «Jede Nacht, bevor ich mich schlafen legte und jeden Morgen, als ich aufwachte, hoffte ich, dass ich in einem Alptraum gefangen war und bald aufwachen würde.» Doch es handelte sich nicht um einen Alptraum, sondern um die Realität, die einen früher oder später wieder einholt: «Plötzlich wurde ich mir einer Freiheit bewusst, die ich gar nie haben wollte», berichtet die Planknerin 2005 – ein Jahr nach dem Unfall – in einem Interview mit einer liechtensteinischen Tageszeitung. Denn als Mutter hatte sie einen ganz anderen Lebensplan: Sorgen um die Lehrstellensuche, Elternsprechstunden, ernste Gespräche über Beziehungen oder das Kennenlernen der ersten richtigen Freundin. Sie wäre für ihren Sohn da gewesen und hätte ihn auf seinem Lebensweg unterstützt und gefördert. «Doch all das war mit einem Mal weg. Es war egal, was ich tat. Zu Hause wartete niemand mehr auf mich.»
Alles bleibt anders
Selbst nach einem solch tragischen Erlebnis kehre der Alltag schnell wieder ein, erzählt Karin Thaler. Zwei Wochen nach dem Tod ihres Sohnes ging sie bereits wieder Teilzeit arbeiten. «Ich arbeite heute noch Teilzeit und bin froh darüber, denn mehr möchte ich auch nicht mehr», erzählt die Bankangestellte. Trotz des schnellen Wiedereinstiegs ins «normale» Leben dauerte es aber Jahre, bis sie den Schicksalsschlag verarbeiten konnte. «Erst nach etwa fünf Jahren wusste ich, dass ich es schaffen kann», berichtet sie.
Auch wenn es Karin Thaler bereits viel besser geht als noch vor acht Jahren, hat Mikes Unfall ihr Leben und ihre Person einschneidend verändert: «Viele Dinge, die mir vorher wichtig erschienen, sind es nicht mehr. Zudem habe ich das Gefühl, dass ich ruhiger geworden bin», erzählt die 48-Jährige. Doch nicht nur Karins Einstellungen, auch ihre Beziehungen veränderten sich: «Manche Freundschaften wurden enger und intensiver, andere wiederum fielen ganz weg», erzählt sie ernst.
Die Idee zur Gesprächsgruppe
Maltherapie, Reitstunden und lange Spaziergänge in der Natur füllten anfangs Karins Zeit neben ihrer Arbeit als Bankangestellte. Doch das war nicht genug: «Ich hatte den Wunsch, darüber zu sprechen», erzählt die 48-Jährige. Ein nachvollziehbarer und gesunder Wunsch, dem das naheliegende Umfeld jedoch nicht immer gerecht werden kann. «Für die Umwelt ist es schwierig nachzuvollziehen wie tief so ein Erlebnis gehen kann. Ich wollte gerne mit Menschen reden, die dasselbe erlebt haben wie ich.» So entstand die Idee zu einer Gesprächsgruppe für Eltern, die ein Kind verloren haben. Diese wurde zusammen mit der Hospizbewegung Liechtenstein ins Leben gerufen. «Es hat mir sehr geholfen, mit Betroffenen zu reden und mit ihnen Gefühle und Gedanken auszutauschen», berichtet sie von ihrer Erfahrung mit der Gesprächsgruppe.
Einen neuen Weg beschreiten
Wie soll es weitergehen? Was kann man unternehmen, damit es besser wird? Dies sind Fragen, die in einer solchen Gesprächsgruppe Platz finden und die Karin Thaler zu beantworten versuchte. «Nach dem Tod von Mike führte ich ein passives Leben. Es war okey, ich habe mich arrangiert, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich einen Weg für mich finden muss», berichtet sie. Den Anfang dieses Weges betrat sie, als sie einen Kurs in der praktischen Hospizarbeit besuchte. Ein weiterer Teil wurde beschritten, als sie ehrenamtliche Leiterin der Gesprächsgruppe wurde, von der sie selbst Jahre zuvor noch Teilnehmerin war.
Der Weg führt weiter
Heute arbeitet Karin Thaler nebenberuflich als Trauerbegleiterin. «Bei meiner Arbeit geht es darum, Angehörige zu unterstützen, damit diese den Verstorbenen in das neue Leben integrieren können», beschreibt sie ihre Tätigkeit. Eine Trauerbegleitung kann zudem dabei helfen, den Tod eines geliebten Menschen zu begreifen und zu akzeptieren. «Sie ist sinnvoll für all jene, die ihre Sprachlosigkeit überwinden und über das Geschehene reden wollen», klärt Thaler auf.
Gerne würde die Trauerbegleiterin vor allem eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche sein: «Nach Mikes Tod habe ich gemerkt, wie sehr auch seine besten Freunde darunter litten. Gerne würde ich Jugendlichen wie ihm bei ihrem Trauerprozess helfen». Karin Thaler zufolge wollen viele Schützlinge eigentlich über einen Todesfall reden, trauen sich aber nicht richtig: «Sie machen die Erfahrung, dass ihr Umfeld mit der Situation überfordert ist und wollen Freunde und Verwandte schützen. Aus diesem Grund vermeiden sie Gespräche über das Gewesene.»
Zusätzlich zu ihrer Tätigkeit als Trauerbegleiterin befindet sich die engagierte Planknerin derzeit in der Ausbildung zur integrativen Beraterin. Ihr Ziel ist es, Menschen bei komplexen Situationen zu helfen und diese Schritt für Schritt ans Ziel zu führen. «Ofmals schränkt ein bestimmtes Problem den Blick auf Lösungen ein. Ich möchte Menschen dabei helfen, ihre Energie auf die Lösung, nicht auf das Problem zu lenken.»
Ein «cooler» Werdegang
Im Jahr 2005 – das Jahr, in dem die Gesprächsgruppe für Eltern, die ihre Kinder verloren haben, ins Leben gerufen wurde – sprach Karin Thaler folgende Worte: «Momentan weiss ich zwar nicht, wohin mich mein Weg führen wird. Ich spüre lediglich, wie ich mich täglich verändere und eine andere Frau werde.» Heute scheint die 48-Jährige ihren Weg gefunden zu haben. Trotz Schmerz und Trauer hat sie sich weiterentwickelt. Sie ist nicht einfach stehen geblieben und hat aufgegeben. Eine Tatsache, die sowohl beeindruckt als auch inspiriert. Mike hätte den Werdegang seiner Mutter wahrscheinlich als «cool» bezeichnet, denn wenige Tage vor seinem Unfall soll er gesagt haben: «Mama, ich finde alles so cool, was du machst.» Bestimmt wäre er heute derselben Meinung. (sb)
Steckbrief
Name: Karin Thaler
Wohnort: Planken
Alter: 48
Beruf: Bankangestellte, Lösungsorientierte Beraterin und Trauerbegleiterin
Hobbys: Reiten, Lesen und Yoga
Leibspeise: Nudeln mit Gemüse-Tomaten-Sauce
Getränk: Wasser und Kaffee
Lektüre: Fantasy, Krimis und Sachbücher
Stadt/Land? Land
Sommer/Winter? Jede Jahreszeit
Lieblingsort: Planken
Stärke: Ich lasse mich nicht unterkriegen
Schwäche: Meine Ungeduld
Mein Traum: Mein Traum für die Zukunft: Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche bei Trauer
Kontakt: www.trauerbegleitung.li
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«Liewo-Porträt»