«Ich brauche Liebe und Verständnis, kein Mitleid»
Auf dem Weg zur kleinen Andachtskapelle am Gamserberg kommt eine Spaziergängerin an einem wunderschönen grossen Garten vorbei. Fasziniert legt sie eine kurze Pause ein und betrachtet das grosse Biotop mit der kleinen Brücke, die verschiedenen Kunstwerke aus Eisen, Schwemmholz und Ton und die beiden Gartenhäuschen. «Sie können ruhig hereinkommen», ruft eine grauhaarige Frau, die gerade aus dem grossen Holzhaus hinter dem Garten tritt. Gestützt auf ihren Krücken, nähert sie sich langsam dem Eingang. Sie streckt der Spaziergängerin ihre Hand entgegen: «Ich bin Bettina Kesseli. Herzlich willkommen in meinem kleinen Paradies.» Die Frau, welche das?Bergkirchlein besichtigen möchte, lässt sich nicht zweimal bitten. Sie bewundert den Garten aus der Nähe und hält bei einem Kaffee einen kurzen Schwatz mit der Besitzerin. Eine halbe Stunde später setzt sie – bereichert von der Begegnung – ihren Weg zufrieden fort.
Das Herz ausschütten
«Ich möchte meinen Besuchern einen guten Gedanken mit auf den Weg geben», erzählt Bettina Kesseli. Sie liebt es, wenn sie Besuch bekommt – egal ob von Verwandten, Bekannten oder fremden Menschen, die zufällig an ihrem Garten vorbeikommen. Genauso gerne wie sie redet, hört sie auch zu. Bei ihr kann man sich über Gott und die Welt unterhalten, aber auch sein Herz ausschütten.
Die 63-Jährige erklärt: «Wenn traurige Menschen meinen Garten mit einem Lächeln im Gesicht verlassen, geht es nicht nur ihnen, sondern auch mir besser». Sie hat in ihrem ersten Leben – wie sie es nennt – viel durchgemacht und möchte jetzt, wo sie wieder «im Licht» steht, anderen Menschen mit ihrer Erfahrung helfen. «Ich weiss, dass Menschen kein Mitleid, sondern Liebe und Verständnis benötigen», so Bettina Kesseli. Sie musste am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn Freunde und Nachbarn plötzlich die Strassenseite wechseln, weil sie nicht wissen, wie man mit einer Person umgeht, die ein schweres Schicksal trägt.«Ich war sehr froh, als ich 1987 zu Toni Kesseli an den Müntschenberg nach Gams ziehen konnte. Hier kannte mich niemand und ich konnte meine Vergangenheit zurücklassen – und noch wichtiger: endlich das Erlebte verarbeiten.»
«Peterli» verschwindet spurlos
«Der 22. September 1981 war der schlimmste Tag meines Lebens», erzählt die zweifache Mutter. An diesem Tag kehrte Peter, ihr jüngster Sohn, nicht vom Tischtennistraining, das sein Vater leitete, zurück. «Mein Mann kam nie mit Peterli nach Hause, da er nach den Kindern auch noch die Erwachsenen trainierte», erklärt Bettina Kesseli. Das Einzige, was man von dem damals 14-jährigen Jungen fand, war das Velo und seine Jacke. Peterli – wie sie ihn 30 Jahre später noch liebevoll nennt – ist bis heute spurlos verschwunden.
Bettina Kesseli wischt sich mit einem Taschentuch eine Träne weg. Ihre Stimme zittert: «Wir haben Tag und?Nacht nach Peterli gesucht.» Währenddessen verschwanden weitere Kinder. Bettina Kesseli kennt die Namen aller Kinder, die in den 80er-Jahren in der Region Toggenburg verschwunden sind. «Einige hat man tot aufgefunden – vergewaltigt und ermordet», erzählt sie traurig. Trotzdem gab sie nicht auf, denn sie hatte früh gelernt, zu kämpfen.
Früh erwachsen geworden
Bettina Kesseli ist im Kanton Nidwalden direkt am Vierwaldstättersee aufgewachsen. Nach der Sekundarschule begann sie ein Haushaltslehrjahr bei einer ungarischen Familie mit vier Kindern. Sie arbeitete keine vier Monate bei der Familie, als die Mutter an einem Hirnschlag starb. Das jüngste Kind war damals erst neun Monate alt. «Ich wurde auf einen Schlag erwachsen», erzählt Bettina Kesseli. Sie musste mit 17 Jahren die Mutter der Kinder ersetzen. «Die Schultage waren Erholung für mich», erinnert sie sich. Jeweils am Dienstag und Freitag konnte sie die Kinder vor dem Unterricht ihrer Mutter bringen. Diese sorgte dann den ganzen Tag für die Kinder und kochte am Abend für sie und Bettina. «Meine Mutter hatte immer eine offene Tür und unterstützte mich bei allem.»
«Meinen Mann, Attila Perjesy, lernte ich durch den Familienvater kennen», klärt Bettina Kesseli auf. Sie heiratete den ungarischen Ingenieur und brachte zwei Jungen zur Welt – Martin und Peter, die sie gemeinsam mit ihren vier Pflegekindern aufzog. 1974 zog die junge Familie mit ihren leiblichen Kindern nach Wattwil. Esther, Monika, Peter und Barbara blieben bei ihrer Mutter in Nidwalden. Bettina Kesseli hat heute noch Kontakt zu ihnen. «Sie waren für mich wie meine eigenen Kinder», sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht, das fünf Minuten später von einer Träne überollt wird, als sie weiter von der Suche nach ihrem Peterli erzählt.
Suche bleibt erfolglos
Bettina und Attila Perjesy liessen keine Option offen: «Uns riefen zahlreiche Hellseher und Wahrsager an, die uns weismachen wollten, dass sie wissen, wo Peterli steckt.» Obwohl sie wussten, dass das Humbug ist, plagte sie, sobald sie schlaflos im Bett lagen, ein komisches Gefühl: Was, wenn er tatsächlich an einem der genannten Orte zu finden ist? Sie fanden keine Ruhe und standen mitten in der Nacht auf, packten ihren Rucksack und setzten die Suche fort – erfolglos. Attila Perjesy hatte Asthmaanfälle und hörte auf zu sprechen. Martin ass immer weniger. «Eines Tages stand mein Erstgeborener plötzlich in den Hosen von Peterli vor mir», erzählt Bettina Kesseli. Martin habe gehungert, damit er in die Hosen seines jüngeren Bruders passte und ihm so nahe sein konnte. «Ich war geschockt, denn ich habe das bei dem ganzen Stress gar nicht bemerkt», erklärt die 63-Jährige. Wenige Jahre später verstarb ihr Mann.
Keine Vorwürfe
Bettina Kesseli sagt, dass sie nur nicht durchdrehte, weil sie sich neben der Suche von Peterli auch um ihren Mann und ihren älteren Sohn kümmern musste. Sie arbeitete ausserdem während der ganzen Zeit als Altenpflegerin. Ob sie sich jemals Vorwürfe gemacht hat, dass Peter verschwunden ist? Sie schüttelt den Kopf: «Ich mache niemandem einen Vorwurf, ich versuche, das Schicksal anzunehmen.» Bettina Kesseli hat bis heute regelmässigen Kontakt zur SOKO Rebecca. Das ist die Interkantonale kriminalpolizeiliche Arbeitsgruppe für die Fahndung nach vermissten Kindern in der Schweiz.
Seit 1996 zahle sie jedoch keine Krankenkasse mehr für Peterli. «15 Jahre nach seinem Verschwinden musste ich ein Papier unterzeichnen, dass ich meinen jüngsten Sohn für verschollen erkläre», fügt sie hinzu – mittlerweile ohne grössere Gefühlsregungen. Man merkt, dass sie langsam, aber sicher lieber von ihrem «zweiten Leben» erzählen möchte. Sie sagt nur noch: «Als ich dachte, dass es endlich wieder aufwärtsgeht, hat sich Martin entschieden, seinem Bruder und Vater zu folgen», und damit ist das Thema «erstes Leben» beendet.
Das zweite Leben
Nachdem ihr Mann und ihr ältester Sohn den «Tod umarmt haben», wie Bettina Kesseli sagt, ging sie auf die Alp Grueb in Wildhaus, um in Ruhe alles verarbeiten zu können. «Ich habe mir geschworen, nur noch Dinge zu tun, die mir und meiner Seele guttun», erzählt die pensionierte Altenpflegerin. Tatsächlich lernte sie dort den Älpler Toni Kesseli kennen, der bisher ebenfalls ein schwieriges Leben hatte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Bettina Kesseli schwärmt: «Er ist das Beste, was mir nach den schweren Schicksalsschlägen passieren konnte.» Bettina und Toni Kesseli schöpften aus ihrer Beziehung neue Kraft. Sie heirateten und bauten sein altes Haus am Gamserberg auf.
Mittlerweile hat sich das Ehepaar sein eigenes kleines Paradies am Müntschenberg geschaffen. Bettina Kesseli lässt ihrer Kreativität freien Lauf, verarbeitet ihre Vergangenheit, indem sie bastelt, schmückt und den Garten pflegt. Ihr Mann unterstützt sie dabei voll und ganz. Die 63-Jährige ist glücklich und ihre Türen stehen – wie bei ihrer Mutter – für alle Menschen, die Hilfe benötigen, offen. Engel, Erinnerungsfotos und altes Kinderspielzeug rund um das Haus zeigen, dass auch ihre Söhne ständig präsent sind. Bettina Kesseli lächelt: «In meinem Garten sind Martin, der Engel der Kraft und Energie, und Peterli, der Engel des Gelingens.» (hl)
Steckbrief
Name: Bettina Kesseli
Wohnort: Gamserberg
Alter: 63 Jahre
Beruf: Altenpflegerin
Hobbys: Geschichten schreiben, Töpfern, Schwemmholz und Steine suchen, Garten pflegen und Haus schmücken
Leibspeise: Chinesisches Essen
Getränk: Tee und Cola Zero
Lektüre: «Ich leih' Dir meine Flügel» von Bruno Vonarburg
Motto: «Ich gehe immer vorwärts und versuche, glücklich zu sein.»
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«Liewo-Porträt»