«Hier zählst du und nicht deine Geschichte»
In seinem Leben machte Roger Fischer die Erfahrung, dass jede Krise stets auch eine Chance birgt. Nach einer schweren Herzoperation wagte er einen Neuanfang und fand dadurch zu seiner Berufung: Heute arbeitet der gelernte Lkw-Fahrer als Betreuer für straffällig gewordene Jugendliche.
Irgendwann kommt im Leben eines jeden Menschen die Zeit, in der man zurückblickt und Bilanz zieht. So auch bei Roger Fischer ? bei ihm jedoch etwas früher als bei den meisten anderen. Im Alter von 35 Jahren lag der Buchser nämlich in einem Zimmer des Universitätsspitals Zürich und erholte sich von einer dreifachen BypassOperation. «Bei mir wurde Arteriosklerose diagnostiziert ? drei meiner Herzkranzgefässe waren stark verkalkt», gibt er Auskunft. Von dieser Diagnose bis zur 9-stündigen Operation vergingen nur wenige Tage. Eben noch mähte Fischer den Rasen vor seinem Eigenheim, und plötzlich fand er sich in einem Spitalbett wieder. «Das war eine extreme Erfahrung», gibt der heute 46-Jährige zu. Eine Erfahrung, die ihm zufolge alles auf den Kopf stellte und ihn fast aus der Bahn warf: «Auf einmal befand ich mich in einer Sinnkrise.» Lebensmüde sei er gewesen und deprimiert. Die Reha liess er mehr oder weniger an sich vorbeigehen. Er hatte keine Motivation, wieder zurück ins Leben zu finden. Bis zu jenem Tag, als seine Frau Klartext sprach: «Was du aus deinem weiteren Leben machst, ist deine Entscheidung. Ich habe mich soweit arrangiert ? ich kann mein Leben ohne dich weiterleben.» Diese harten und dennoch wahren Worten holten den angeschlagenen Herzpatienten endlich aus seiner Lethargie. Von einem Tag auf den anderen begann er sein Leben wieder in die Hand zu nehmen und beschloss, einen Neuanfang zu wagen.
Mit dem Lkw auf Hochzeitsreise
Rund 15 Jahre vor diesem einschneidenden Erlebnis stand Roger Fischer an einem ganz anderen Punkt in seinem Leben. Der damals 20-Jährige hatte seine Lehre als Lastwagenführer erfolgreich abgeschlossen und war bereits als solcher auf den Strassen unterwegs. «Für mich war das Lkw-Fahren eine Leidenschaft», erzählt der Buchser. Anfangs habe er Stückgut quer durch die Schweiz transportiert ? bis bei ihm der Wunsch aufkam, auch mal längere Fahrten ins Ausland zu unternehmen. So nahm Fischer eine Stelle in Werdenberg an, bei der er auch Überlandfahrten machen durfte. Anfangs ging es für ihn vorwiegend nach Italien, danach bereiste er die ganze Welt. Seine Fahrten führten ihn unter anderem nach Deutschland, Holland und Griechenland. Er habe es geliebt ? die ausgesprochen gute Kollegschaft der Fahrer untereinander und auch den Nervenkitzel, wenn es darum ging, sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden. «Ich war mit Herz und Seele Lastwagenfahrer», resümiert der heute 46-Jährige und führt an, dass er sogar mit seinem Lkw in die Flitterwochen fuhr.
Familie im Mittelpunkt
Als 1991 Roger Fischers Tochter das Licht der Welt erblickte, beschloss der Überlandfahrer, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Er konnte es sich nicht vorstellen, die meiste Zeit im Lkw zu verbringen und seine kleine Familie allein zu lassen. «Ich wollte meine Tochter aufwachsen sehen», begründet er seine Entscheidung. So suchte sich der Buchser eine Arbeit, die mit seinem Familienleben besser vereinbar war, und wurde Zimmermann. «Das handwerkliche Geschick wurde mir in die Wiege gelegt und ich war froh, dass ein Zimmermann aus Grabs mir die Chance gab ? auch ohne entsprechende Ausbildung ?, bei ihm tätig zu werden», erzählt Fischer. Ein Jahr später kam sein Sohn zur Welt und für ihn begann eine, wie er es nennt, «intensive Familienzeit».
Auf zu neuen Ufern
Rund zehn Jahre vergingen ? Fischer arbeitete weiterhin als Handwerker und kümmerte sich um seine Familie ?, als der besagte Tag kam, an dem bei ihm Arteriosklerose diagnostiziert wurde. Was für ihn anfangs eine Hiobsbotschaft war und ihm psychisch zusetzte, beschreibt der Buchser heute als grosse Chance: Schon seit einiger Zeit hegte er nämlich den Wunsch, mit Menschen zusammenzuarbeiten ? der schwere gesundheitliche Zwischenfall motivierte ihn, diesen Wunsch in die Realität umzusetzen. Noch im selben Jahr fand er eine Anstellung beim Lukashaus in Grabs, einer Institution für Menschen mit einer geistigen oder köperlichen Behinderung. Kurz darauf nahm er berufsbegleitend eine Umschulung zum Betagtenbetreuer in Angriff, die er zwei Jahre später erfolgreich abschloss.
Kleine Kurskorrektur
Seine Zeit beim Lukashaus hat Roger Fischer in guter Erinnerung: «Wir waren ein tolles Team und ich wurde vom Lukashaus auf meinem neuen Weg stets unterstützt.» Über ein Jahrzehnt hat er dort gearbeitet ? bis zu jenem Tag, als ihn seine Herzkrankheit wieder einholte. Die Ärzte hatten herausgefunden, dass eines seiner Herzkranzgefässe wieder verkalkt war ? diesmal bestand aber keine Möglichkeit, dies operativ zu beheben. Dieser Rückfall brachte Roger Fischer erneut dazu, über sein Leben nachzudenken und eine Kurskorrektur vorzunehmen: «Mir wurde bewusst, dass ich meine Arbeit gerne mit Jugendlichen fortsetzen möchte», erzählt der gelernte Lastwagenführer. Als er kurz darauf erfuhr, dass Rossrüti ? eine Einrichtung, die sich um straffällig gewordene Jugendliche kümmert ? einen Betreuer suchte, packte er die Chance am Kragen. Er besichtigte die Institution und stellte für sich fest: «Das ist es ? hier bin ich angekommen.»
Eigene Ideen einbringen
Im April 2012 begann Roger Fischer mit seiner Arbeit als Betreuer in Rossrüti. Damals war die Einrichtung vor allem dafür bestimmt, straffällige Jugendliche in ihrem Massnahmenvollzug zu begleiten. Auf dem weitläufigen Hof mit angrenzenden Reitstall wurden die jungen Erwachsenen dazu angehalten, mitzuarbeiten und so ihre Strafe abzugelten.
Doch so sehr Roger Fischer seinen neuen Aufgabenbereich schätzte, schnell wurde ihm bewusst, dass seine neue Arbeitsstätte durchaus Verbesserungspotenzial aufwies. Diese Auffassung teilte auch die Besitzerin des Hofes, Susi Inauen. Gemeinsam mit ihr erstellte Fischer ein neues Konzept für die Einrichtung: «Uns war es wichtig, die Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen ? wir wollten ihnen mehr als nur Krisenintervention und ein Time-out bieten.» Aus diesem Grund gründeten Fischer und Inauen die Firma «S.M.I Pädagogik Rossrüti».
«Hier zählst du»
Weg vom blossen Massnahmenvollzug, hin zur ganzheitlichen Betreuung ? das ist kurz gefasst das Ziel, welches Roger Fischer mit S.M.I Pädagogik Rossrüti verfolgt. «Eines unserer Anliegen ist, die Jugendlichen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie sollen bei uns lernen, sich im sozialen, schulischen und beruflichen Umfeld zurechtzufinden», gibt Fischer Auskunft. Das erreichen er und sein Team unter anderem mit einer engmaschigen Betreuung, die auf die Besonderheiten jedes einzelnen Jugendlichen zugeschnitten ist. Dazu gehört der wertschätzende Umgang mit den jungen Erwachsenen. Jeder Einzelne bekommt eine Chance, sich zu beweisen, ganz gemäss dem Rossrüti-Motto «Hier zählst du und nicht deine Geschichte».
Ein Vorbild
Auch wenn S.M.I. Pädagogik Rossrüti noch relativ neu ist, das Konzept scheint sich zu bewähren. «Nicht nur wir sind sehr zufrieden mit dem, was wir auf die Beine gestellt haben, sondern auch die Jugendanwaltschaften ? sie sind richtiggehend begeistert», erzählt Fischer stolz. Für ihn ist dies natürlich auch ein persönlicher Erfolg, denn in seiner neuen Arbeit steckt sein ganzes Herzblut: «Endlich habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen ? ich darf Jugendliche auf ihrem Weg in eine hoffentlich positive Zukunft begleiten».
Diesen Weg kennt Roger Fischer aus eigener Erfahrung. Aus den Krisen seines Lebens hat der heute 46-Jährige das Beste gemacht. Er liess sich nicht unterkriegen und setzte stets einen neuen Kurs, als er dies für nötig hielt. Das Ergebnis: Roger Fischer hat letzendlich zu seiner Berufung gefunden und ist sehr glücklich damit.
Steckbrief
Name: Roger Fischer
Wohnort: Buchs
Alter: 46
Beruf: Geschäftsführer S.M.I Pädagogik Rossrüti
Hobbys: Posaunenspieler in der Dorfmusik Grabs und der Guggenmusik Näblschränzer Buchs
Leibspeise: Fleisch in allen Variationen
Getränk: Kaffee, Wasser und ein feines, dunkles Bier
TV-Vorliebe: Actionfilme
Musik: AC/DC
Lektüre: Zeitschrift P.M.
Stadt/Land? Land
Sommer/Winter? Lieber Frühling und Herbst
Ort: Irgendwo in den Bergen
Stärke: Empathie, Organisationstalent und Hartnäckigkeit
Schwäche: «Ich kann nicht Nein sagen.»
Motto: «Liebe dein Leben»
Kontakt: www.paedagogik-rossrueti.ch
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