«Essen ist kein Grund für ein schlechtes Gewissen»
Andrea Milstein hat vor genau einem Jahr die «Essküche» in Götzis eröffnet. Die 53-jährige Textilingenieurin kehrte 2011 von ihrer langjährigen Tätigkeit in Südostasien und den USA in ihre Heimat Vorarlberg zurück ? mit Familie und einer neuen Mission.
Der Raum ist offen, hell und freundlich. An der Wand hängt ein Gewürz- und Küchenkräuterlexikon. In den Regalen stehen Kochbücher aus aller Welt, und mittendrin befindet sich eine moderne, grüne Kochinsel, von der jeder Hobbykoch träumt. Die Rede ist von der «Essküche» in Götzis, die Andrea Milstein seit genau einem Jahr betreibt. «Ich möchte bei den jungen Leuten die Freude am Kochen wecken. Ziel ist es, dass sie wegkommen von Fastfood und Fertiggerichten und sich mit natürlichen Zutaten selbst versorgen», erzählt Milstein. Kochen und Essen sind ihrer Meinung nach Vorgänge, die unweigerlich miteinander verbunden sind ? auch wenn das heutzutage für viele Jugendliche nicht mehr selbstverständlich ist.
Köchin mit Mission
Sie bietet Lehrlingsseminare, Team-Events für Firmen und Vereine sowie im Sommer Kochkurse für Jugendliche auf Englisch an. «Die Lehrlinge lernen bei mir einfache Grundlagen des Kochens. Nach dem Seminar wissen sie, woher die Zutaten kommen, wie sie sinnvoll Nahrungsmittel einkaufen und wie sie eine Anzahl einfacher Gerichte selber zubereiten können.» Vor allem mittlere und grosse Firmen in Österreich machen Gebrauch von diesem Angebot und schicken die Lehrlinge aller Abteilungen gemeinsam an das dreitätige Seminar. Denn auch der Arbeitgeber profitiert, wenn sich die Angestellten ausgewogen ernähren. «Eine gesunde Ernährung steigert das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit und lehrt Wertschätzung für die Hersteller unserer Lebensmittel»,weiss Milstein.
Die Team-Events werden auch von Firmen und Vereinen aus der Schweiz und Liechtenstein genutzt. Hier lautet das Motto der leidenschaftlichen Köchin: «Mit regionalen und saisonalen Zutaten überregionale Gerichte zubereiten». Die Teams können ihre Vorlieben selbstverständlich einbringen, persönlich bevorzugt Andrea Milstein aber die asiatische Küche: «Nebst der Tatsache, dass ich lange in Hongkong und Bangkok gelebt habe, sind die Gerichte bekömmlich und leicht zuzubereiten.»
Textilbranche und Sprachen
Die Freude am Kochen und Essen wurde Andrea Milstein sozusagen in die Wiege gelegt. In ihrer Familie spielte eine gesunde und nährstoffreiche Ernährung eine wichtige Rolle. «Wir hatten einen grossen Garten, in dem wir viele Zutaten selbst angebaut haben. Zudem ist meine Mutter eine hervorragende Köchin», erinnert sich die 53-Jährige an ihre Kindheit zurück. Sie ist in Altach aufgewachsen, machte die Matura im Textilbetriebsbereich und studierte nach einem Zwischenjahr in London und Paris Englisch und Französisch ? «in der Hoffnung, dass ich mein Wissen über die Textilbranche und die Sprachen einmal im Ausland kombinieren kann», erläutert Milstein. Denn sie war nämlich nicht nur mit einer Leidenschaft für gutes Essen zur Welt gekommen, sondern auch mit Fernweh.
Mit 26 Jahren arbeitete sie als Übersetzerin und Sachbearbeiterin in einer Firma in Liechtenstein, als sie auf ein Stelleninserat in der Zeitung stiess, das ihr Interesse weckte: Gesucht wurde ein englisch sprechender Mitarbeiter für Qualitätskontrollen in Produktionsbetrieben in Hongkong und Südostasien. Diese Gelegenheit liess sich die sprachversierte Textilingenieurin nicht entgehen, schickte ihre Bewerbungsunterlagen ein ? und erhielt die Arbeitsstelle tatsächlich. «Der Zeitpunkt war perfekt: Ich war ungebunden, finanziell unabhängig und freute mich riesig auf die neue Herausforderung und den neuen Kontinent», erzählt Andrea Milstein.
Asiatische Küche entdeckt
Bereits einen Monat nach Ankunft in Hongkong traf die damals 26-Jährige die Liebe ihres Lebens: Paul war ein Jurist aus Chicago und genau wie sie geschäftlich in Hongkong. «Wir haben uns auf einer Party kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick», schwelgt Andrea Milstein in Erinnerungen. Eineinhalb Jahre später heiratete das Paar und zog zwei Jahre später nach Bangkok, wo es seine Vorliebe für die Thai-Küche entdeckte. Dabei war ihr ihre Köchin Lumyai eine sensationelle Lehrmeisterin. In Bangkok brachte die Textilingenieurin auch ihr erstes Kind zur Welt und kehrte nach zwei weiteren Jahren mit ihrer Familie nach Hongkong zurück. «Die Hitze und der Verkehr machten uns zu schaffen. Zudem fehlten Grünflächen, um mit unserer Tochter spazieren zu können.» Ihr zweites Kind, ein Sohn, gebar sie 1992 in Hongkong. Drei Jahre später nahm die Zeit in Asien jedoch definitiv ein Ende.
Ihr Mann erhielt ein Jobangebot von der amerikanischen Regierung. So verlagerte die Familie ihr Leben nach Washington D.C. Andrea Milstein lächelt: «Wie bereits erwähnt, uns machte das Reisen nichts aus ? im Gegenteil, es war immer wieder interessant, neue Menschen und Kulturen kennenzulernen.» Mit der Ernährung der Amerikaner war die Mutter jedoch nicht einverstanden. «In der Schule setzte man den Kindern reine Industrieprodukte vor, die man nur noch aufwärmen musste ? die Mensa hatte nicht einmal eine Küche», erzählt die ernährungsbewusste 53-Jährige und ist heute noch entsetzt darüber.
Bauernmarkt in Washington D.C.
Besorgt um die Ernährung ihrer Kinder, machte sich Andrea Milstein auf die Suche nach Dinkelmehl, unpasteurisierter Milch, Freilandeiern und Fleisch, das nicht aus Massentierhaltung stammte. «Das war kein einfaches Unterfangen», so die zweifache Mutter. Sie fand schliesslich einen Kleinbauern, von dem sie ab sofort frische Zutaten für ihre Familie bezog. Das sprach sich schnell in der Nachbarschaft herum und Milstein lernte zahlreiche gleichgesinnte Frauen kennen. Mit ihnen und einer Anzahl von Kleinbauern organisierte sie schliesslich wöchentlich einen Bauernmarkt in einem Vorort von Washington D.C.
Die Idee für die «Essküche» nahm Gestalt an, als Andrea Milstein von einer Freundin angefragt wurde, ob sie einen Kochkurs veranstalten und den Erlös ihrer Kirche spenden würde ? weil sie doch so gut kochen könne. So gründete die Textilingenieurin «Cooking with an Accent» und wurde eine leidenschaftliche Köchin und Ernährungsberaterin, die nicht nur Koch-, sondern auch Ernährungskurse anbot. Ihre Botschaft: «Essen ist kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Mit natürlichen?Lebensmitteln, etwas Know-how und ein wenig Geduld kann jeder kochen lernen. Wer selber kocht, isst gesünder. »
Den Spiess umgedreht
Während der 16 Jahre in Washington D.C. besuchte Andrea Milstein mit ihrer Familie ein- bis zweimal im Jahr ihre Verwandten und Bekannten in Vorarlberg. Die 53-Jährige liebt Berge und Skitouren und teilt diese Leidenschaft mit ihren drei Geschwistern. Bei einem Besuch vor drei Jahren in Altach meinte ihre Schwester in gemütlicher Runde plötzlich: «Wieso kehrt ihr nicht nach Vorarlberg zurück? Dann wären diese schönen Stunden keine Seltenheit mehr.» Warum nicht, dachten sich Andrea Milstein und ihr Mann ? und kehrten den Spiess um: Sie zogen nach Mäder und besuchen nun ihre Kinder und Bekannten ein- bis zweimal pro Jahr in den USA.
«Unsere Kinder studieren mittlerweile in den Staaten und leben am Campus. Sie haben kein Problem damit, in den Flieger zu steigen, wenn sie das Bedürfnis haben, uns zu sehen», lacht die reiselustige Mutter. Selbstverständlich hat sie ihre Kinder zweisprachig erzogen, sodass sie jederzeit problemlos in der Schule mitkommen. Die gebürtige Vorarlbergerin ist momentan auf jeden Fall sehr zufrieden mit ihrem Leben. Mit der «Essküche» in Götzis hat sie sich einen Traum erfüllt. Trotzdem will sie sich beruflich nicht festlegen. «Ich liebe die ?Essküche?, aber das heisst nicht, dass dies das Letzte ist, was ich in meinem Leben machen werde», verrät Andrea Milstein mit einem Augenzwinkern. (hl)
Steckbrief
Name: Andrea Milstein
Wohnort: Mäder
Alter: 53
Zivilstand: Glücklich verheiratet, zwei Kinder im Alter von 23 und 21 Jahren
Beruf: Textilingenieurin, Übersetzerin und Köchin
Projekt: Essküche in Götzis
Hobbys: Reisen, Skitouren und Mountainbiken
Leibspeise: Indisches Papri Chaat
Getränk: Wasser und Wein
TV-Vorliebe: «Ein Fisch namens Wanda»
Musik: Rock aus den 80er-Jahren
Lektüre: Sachbücher über Nahrungsmittel und Esskulturen von Michael Pollan
Stadt/Land? Mittlerweile Land
Sommer/Winter? Winter
Ort: Hongkong und in den Bergen
Stärke: Durchsetzungsvermögen
Schwäche: Sturheit
Lebensmotto: Sich auf die kleinen Dinge des Lebens konzentrieren, sie passieren öfter als die grossen.
Kontakt: info@esskueche.com
www.esskueche.com
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