Eine Triesenbergerin auf tansanischen Wegen
Im Jahr 2004 kam Johanna Sele-Rutinwa mit dem Liechtensteinischen Entwicklungsdienst nach Mwanza in Tansania. Lediglich drei Jahre hat sie für diesen Zwischenstopp eingeplant ? mittlerweile sind es acht geworden und an eine Rückkehr denkt die Triesenbergerin noch lange nicht.
Unberührte Natur, endlose Weiten und eine atemberaubende Tierwelt: Tansania ist das Bilderbuch Afrikas und so manchem Touristen verschlägt es den Atem, wenn er zum ersten Mal einen Schritt in eine der wohl spektakulärsten Landschaften Afrikas macht. Doch so berauschend Tansania für manchen Durchreisenden sein kann, das ostafrikanische Land hat auch seine Schattenseiten. Obwohl sich Tansania im Gegensatz zu vielen anderen afrikanischen Staaten in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht relativ stabil präsentiert, hat die Republik dennoch mit Problemen wie Armut, Korruption und mangelnder medizinischer Versorgung zu kämpfen. Politische Unruhen sind glücklicherweise noch die Ausnahme, nichtsdestotrotz befindet sich das Land im Umbruch. Die Industrialisierung schreitet rasend voran und das ursprüngliche Wertesystem gerät ins Wanken ? eine Entwicklung, die sowohl Gutes als auch Schlechtes mit sich bringt.
Im Norden Tansanias liegt Mwanza, die zweitgrösste Stadt des Landes. Direkt am Viktoriasee gelegen, gleicht sie einer immergrünen Oase. Doch Mwanza ist auch eines der grössten Industrie- und Wirtschaftszentren der Republik und gerade hier ist der industrielle und soziale Wandel deutlich spürbar. Sowohl sehr arme Behausungen als auch moderne Hochhäuser prägen das Stadtbild. Neben jenen, die von der Industrialisierung profitieren und sich ein angenehmes Leben leisten können, gibt es auch solche, die tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen. Rund eine Million Menschen lebt und arbeitet in Mwanza und Umgebung. Eine von ihnen ist Johanna Sele-Rutinwa. Vor rund zehn Jahren verschlug es sie im Auftrag des Liechtensteinischen Entwicklungsdiensts (LED) hierher. Ursprünglich sollte Mwanza nur eine Zwischenstation im Leben der Triesenbergerin sein ? doch aus der Zwischenstation wurde ihre neue Heimat.
Wie das Leben so spielt
Es war im Jahr 2004, als Johanna Sele-Rutinwa und ihr damaliger Mann ihre Zelte in Liechtenstein abbrachen und gemeinsam für den LED nach Tansania gingen. «Wir befassten uns schon seit Längerem mit der Idee, uns im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu engagieren», erzählt die 48-Jährige. «Die Herausforderung, unser Interesse an fremden Kulturen und der Wunsch, sich für andere einzusetzen ? all das bewegte uns dazu, diesen einschneidenden Schritt zu wagen.» So habe sie gemeinsam mit dem LED lange Zeit nach einem unterstützungswürdigen Projekt gesucht und letztlich mit «Adilisha» ein solches gefunden. «Adilisha ist eine gemeinnützige Organisation in Mwanza, die es sich zum Ziel gesetzt hat, tansanische Familien zu unterstützen», erklärt Sele-Rutinwa. Und eben diese Organisation konnte dringend Hilfe im Aufbau der Organisationsstrukturen gebrauchen. Hilfe, die in diesem Fall aus dem liechtensteinischen Triesenberg kommen sollte.
Drei Jahre wollte das Ehepaar in Mwanza bleiben. Danach sollte es wieder gemeinsam zurück in die alpenländische Heimat gehen. So zumindest lautete der ursprüngliche Plan. Doch wie so oft im Leben kam letztlich alles anders. Noch während ihrer gemeinsamen Zeit in Tansania trennten sich Johanna Sele-Rutinwa und ihr Ehemann. «Wir kamen beide zum Schluss, dass wir uns unsere Ehe anders vorgestellt haben. Wir beschlossen, uns wieder freizugeben», erzählt sie. Ein Beschluss, den beide nie bereuten: Noch heute sind die Triesenbergerin und ihr Exmann in Freundschaft verbunden und nach ihrer Trennung haben beide letztlich doch noch ihre grosse Liebe gefunden ? und zwar in Tansania.
Eine Herzensangelegenheit
Im Jahr 2008 kam Johanna Sele-Rutinwa wieder zurück ins Fürstentum ? ohne Ehemann, dafür aber mit vielen wertvollen Erfahrungen und einem unbändigen Fernweh nach dem Schwarzen Kontinent. «Bereits vor meiner Rückkehr spielte ich mit dem Gedanken, in Mwanza zu bleiben», berichtet sie. Nicht zuletzt auch, weil sie dort Switbert Rutinwa kennengelernt hatte. Der sympathische Tansanier arbeitete ebenfalls bei «Adilisha» und er und Johanna verstanden sich nicht nur prächtig, sondern verliebten sich auch ineinander. Auch wenn die gelernte Kindergärtnerin gerne in Mwanza und bei Switbert geblieben wäre, hatte sie das Gefühl, nochmals nach Liechtenstein zurückkehren zu müssen: «Hier wollte ich eine Standortbestimmung vornehmen ? nachspüren, was die Zukunft für mich noch bereithalten soll.» Eineinhalb Jahre dauerte diese Standortbestimmung, dann war sich Johanna sicher: Ihre Zukunft liegt in Mwanza und bei Switbert Rutinwa. Erneut packte die Triesenbergerin ihre Koffer und begab sich nach Tansania.
Heute ist sie froh über diesen Entscheid: Ein Jahr nach ihrer Rückkehr heiratete sie ihren Switbert und führt eine glückliche Ehe. Seit bald fünf Jahren arbeitet sie im Auftrag des LED im Jugend- und Frauenzentrum «Lubango» in Mwanza und vor fast vier Jahren hat sie ein privates Projekt in Angriff genommen, welches ihr sehr am Herzen liegt: «Ende 2010 haben Switbert und ich die Viktoria-Schule ins Leben gerufen. Eine Schule, in der Kinder ? auch solche aus armen Verhältnissen ? die Chance bekommen sollen, in einer wohlwollenden Umgebung individuell gefördert zu werden», erzählt die Auswanderin. Die Idee zu diesem gemeinnützigen Projekt habe sich ihr aus verschiedenen Gründen aufgedrängt. Doch allen voran sei es das desolate Schulsystem gewesen, welches ihr aufzeigte, wie dringend eine solche Einrichtung gebraucht werde. «In den öffentlichen Schulen ist körperliche Züchtigung immer noch Teil der Erziehung, es gibt nur wenige Schulplätze und auch nur wenig gut ausgebildete Lehrkräfte. Mit der Viktoria-Schule versuchen wir, hier etwas zu bewegen», erzählt sie.
Das Leben als «Mzungu»
Die Idee zur Viktoria-Schule kam jedoch nicht von ungefähr. Johanna ist Kindergärtnerin, ihr Mann Switbert Sekundarlehrer: «Schon seit unserem Kennenlernen reden wir davon, wie wir uns eine gute Schule vorstellen würden und was man besser machen könnte», berichtet Sele-Rutinwa. Für beide sei es immer ein Traum gewesen, eine Schule nach ihren Vorstellungen zu führen. Im Jahr 2010 ergab sich dann für das Ehepaar die einmalige Gelegenheit, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Sie wurden angefragt, ob sie eine bereits existierende Schule übernehmen wollten. Johanna und Switbert sagten zu und fingen an, Schritt für Schritt ihre Viktoria-Schule aufzubauen. Während Johanna neue pädagogische Konzepte nach europäischem Vorbild einfliessen liess, behielt Switbert stets den Blick für die tansanischen Begebenheiten. «Wir versuchen, eine gute Mischung zwischen europäischem und tansanischem Stil zu finden», meint Johanna Sele-Rutinwa.
Auch wenn sich die Liechtensteinerin in Mwanza sehr geborgen fühlt, das Leben als «Mzungu» ? wie Europäer auf Kisuaheli genannt werden ? ist nicht immer einfach. Vieles in Afrika läuft ganz anders als in der liechtensteinischen Heimat. «Prinzipien kann man sich hier in Tansania einfach nicht leisten ? zu sehr ist man auf andere angewiesen. Und auch mit der Wahrheit nehmen es die Tansanier oft nicht so genau. Mit ihr wird gerne zum eigenen Vorteil gespielt», fasst die Liechtensteinerin die für sie gravierendsten Unterschiede zusammen. Es habe durchaus Momente gegeben, in denen sie an ihrer Entscheidung gezweifelt habe, gibt sie offen und ehrlich zu. Doch jene Zweifel seien stets von kurzer Dauer gewesen. «Es ist das mir von meinen Eltern mitgegebene Urvertrauen, das mich durch schwierige Zeiten lotst ? das Gefühl, dass alles irgendwie gut wird», verrät sie.
Der Heimat nähergekommen
Aber auch das Wissen um die Unterstützung aus ihrer liechtensteinischen Heimat lässt sie viele der widrigen Umstände in Mwanza vergessen. Vor fast zwei Jahren haben beispielsweise ein paar Freunde und Bekannte den gemeinnützigen Verein «Freunde der Viktoria-Schule» ins Leben gerufen. Ziel des Vereins ist es, Johanna und Switbert beim Aufbau ihrer Schule finanziell und moralisch zu unterstützen. «Zu wissen, dass es in Liechtenstein Menschen gibt, auf die ich mich verlassen kann, ist mir eine grosse Stütze», gibt sie zu.
Natürlich verspüre sie manchmal Heimweh nach Liechtenstein, vor allem nach ihrer Familie und ihren Freunden. Doch auch wenn ihr Engagement in Tansania sie geografisch vom Fürstentum weggeführt habe, sei sie durch ihr Leben in Afrika ihrer ursprünglichen Heimat letztlich doch nähergekommen: «Seit ich in Tansania lebe, schätze ich Liechtenstein noch viel mehr. Ich durfte erfahren, wie offen und grosszügig Liechtensteiner sind. Das bringt mich immer wieder zum Staunen und berührt mich sehr.» Und auch wenn sie ihren Lebensabend gerne in Mwanza verbringen möchte und Kisuaheli nun zu ihrer Alltagssprache geworden ist, wird Johanna Liechtenstein und ihren unverwechselbaren Walser Dialekt wohl stets in ihrem Herzen tragen. (sb)
Steckbrief
Name: Johanna Sele-Rutinwa
Wohnort: Mwanza/Tansania
Alter: 48
Beruf: Kindergärtnerin, Entwicklungshelferin und Schulleiterin der Viktoria-Schule
Leibspeise: Liechtensteinische Käsknöpfle oder Tansanisches Pilau
Getränk: Wasser
Musik: Verschiedenes
Lektüre: Historische Romane
Stadt/Land? Land
Sommer/Winter? Sommer
Lieblingsort: Triesenberg und Mwanza
Stärke: «Ich bin sehr flexibel»
Schwäche: «Manchmal stecke ich mir meine persönlichen Ziele zu hoch.»
Motto: Immer das Beste aus jeder Situation machen
Kontakt: www.viktoriaschools.li und www.freunde-viktoriaschule.li
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«Liewo-Porträt»