Eine Grabserbergerinmit indischen Wurzeln
Polly Hollenstein ist eine waschechte Schweizerin: Sie liebt «Gschwellti» mit Käse, lebt schon fast ihr ganzes Leben lang in Grabs und bezeichnet sich selbst als «urchig». Ihr Lebenslauf und auchihr Aussehen unterscheiden sich jedoch ein wenig von dem einer Durchschnittsschweizerin.
Am Bahnhof im indischen Naihati ist es ein Tag wie jeder andere ? es ist staubig, heiss und laut. Tausende von Menschen wuseln durch den Bahnhof und verwandeln diesen in einen riesigen Ameisenhaufen. Es herrscht Chaos und kaum jemand nimmt Notiz von dem kleinen Körbchen, das verlassen in einer Ecke steht. In dem geflochteten Behältnis liegt ein kleines Mädchen mit grossen dunklen Augen und schwarzen Haaren. Es ist wenige Monate alt und wurde hier am Bahnhof von Naihati seinem Schicksal überlassen.
So in etwa beginnt die Geschichte von Polly Hollenstein, einer waschechten Grabserbergerin, die durch eine Adoption von Indien in die Schweiz kam. Dass sie als Baby von ihren leiblichen Eltern ausgesetzt wurde, bezeichnet die heute 32-Jährige als Glücksfall.
Willkommen in der Schweiz
Es war am Abend des 20. Januar 1982, als die 13 Monate alte Polly Anna Gabriela Hollenstein von einem Waisenhaus in Kalkutta zu ihren Adoptiveltern in die Schweiz kam. Zu Beginn wohnte sie mitihrer neuen Familie noch in Rorschach, zügelte aber bald darauf mit ihrem Bruder und ihren Eltern an den Grabserberg ? einem Schweizer Bergdorf, wie es im Buche steht. Dort verbrachte sie nach eigenen Angaben eine tolle Kindheit, auch wenn sie sich von allen anderen Dorfbewohnern ziemlich unterschied: «1983 war ich bei uns im Dorf die einzige Dunkelhäutige», erinnert sich Hollenstein heute. Sie sei damals ziemlich aufgefallen und ziehe auch heute immer noch die Aufmerksamkeit anderer auf sich. «Ich sehe eben anders aus als die Durchschnittsschweizerin», meint sie lächelnd.
Ans Zürcher Strafgericht
Obwohl Polly Hollenstein vielleicht nicht so aussieht ? ihr Werdegang unterscheidet sich nicht wesentlich von dem einer typischen Eidgenossin. Nach dem Besuch der Primarschule und dem Abschluss der Realschule in Grabs absolvierte sie eine Lehre zur Verkäuferin und holte kurz nach Lehrabschluss die kaufmännische Berufsausbildung nach. Daraufhin war die Grabserbergerin einige Jahre als kaufmännische Angestellte in der Region tätig ? bis zu jenem Zeitpunkt, als sie ein Jobangebot bekam, das sie nicht ausschlagen konnte: Im Jahr 2007 erhielt sie die Möglichkeit, beim Zürcher Obergericht als stellvertretender Gerichtsweibel tätig zu werden. Eine Arbeit, an der sie nicht nur Gefallen fand, sondern die sie auch forderte. Als Amtsdienerin war es nämlich ihre Aufgabe, dem Gericht administrativ unter die Arme zu greifen. Sie war unter anderem dafürzuständig, den Aktenverkehr zu organisieren und Gerichtssitzungen zu überwachen. «Meine Arbeit beim Strafgericht war äusserst spannend. Ich habe viel erlebt und so einigeErfahrungen gemacht», erinnert sie sich.
Eine klassische Liebesgeschichte
Wie viele Schweizer ist auch Polly Hollenstein sehr heimatverbunden. Das war unter anderem auch der Grund, weshalb sie trotz ihrer Anstellung in Zürich in der Region wohnen blieb. «Ich wollte nicht nach Zürich ziehen, sondern lieber hier bleiben», erzählt die 32-Jährige. Also pendelte sie jeden Tag mit dem Zug von Sargans nach Zürich ? eine Entscheidung, die ihr Leben verändern sollte. Eines Morgens nämlich sass sie einem jungen Mann gegenüber, der dieselbe Zeitung las und sich für denselben Artikel interessierte. Polly und der blonde Schweizer kamen ins Gespräch, verstanden sich auf Anhieb und tauschten am Ende der Zugfahrt ihre Telefonnummern aus. Was danach folgte, kann man wohl als klassische Liebesgeschichte bezeichnen: Nach einigen Dates verliebte sich das junge Paar und beschloss schon bald, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen und eine Familie zu gründen. «Der Plan stand quasi schon, doch wir haben ihn etwas schneller umgesetztals erwartet», meint Hollenstein lächelnd. Noch im selben Jahr, in dem sie ihren zukünftigen Mann im Zug kennenlernt hatte, wurde die Grabserbergerin schwanger. 2011 gebar sie ihr erstes Kind ? ein Mädchen namens Leena. Ein Jahr später kam ihr Sohn David auf die Welt.
Vollblutmama mit Job
Mittlerweile arbeitet Polly Hollenstein nicht mehr beim Zürcher Obergericht ? das ständige Pendeln und der anstrengende Job liessen sich schlicht und einfach nicht mit dem Mutterdasein vereinen. Dennoch liess die Arbeit im juristischen Bereich die 32-Jährige nicht los: Heute arbeitet sie Teilzeit als Sachbearbeiterin in der Strafanstalt Saxerriet. Wenn sie gerade nicht im Büro ist, verbringt die Vollblutmama viel Zeit mit ihren Kindern und ihrem Mann. «Meine Familie bedeutet alles für mich ? sie steht für mich an erster Stelle», gibt sie zu. Für sie gebe es nichts mit höherer Priorität, denn schliesslich habe sie selbst die Erfahrung gemacht, wie wichtig eine Familie sein kann. «Ausserdem habe ich nun mit meinen Kindern endlich jemanden in meinem Familienkreis, der mir ein wenig ähnlich sieht», fügt sie lachend hinzu und spricht damit ein Thema an, das sie ihr Leben lang begleitet: Die Grabserbergerin ist ein dunkelhäutiges Adoptivkind.
Ein Glücksfall
«Es war eine sehr intensive undeindrückliche Erfahrung», beschreibt Polly Hollenstein den Moment, als sie vor rund sechs Jahren das erste Mal vor dem Bahnhof in Naihati stand. Für sie war es ein einmaliges Erlebnis, an jenen Ort zurückzukehren, wo alles begann. Überhaupt haben Hollensteins Besuche in Indien bei ihr sehr eindrückliche Erinnerungen hinterlassen: «Ich habe in Indien viel Armut gesehen und meine Besuche haben mir vor Augen geführt, was für ein Glück ich eigentlich hatte.» Liebevolle Eltern, eine anerkannte Ausbildung und die Möglichkeit, sich selbst einen Lebenspartner zu suchen ? all das wäre der sympathischen Schweizern in ihrem Geburtsland wohl verwehrt geblieben. «Indem ich ausgesetzt und adoptiert wurde, wurde mir eine Chance gegeben, die ich sonst nie gehabt hätte», erzählt sie bedeutungsschwer und verdeutlicht mit dieser Aussage, dass sie mit dem Thema Adoption einen guten Umgang gefunden hat.
Nicht immer leicht
Etwas schwieriger als der Umgang mit ihrer Adoption gestaltet sich für Polly Hollenstein der Alltag als dunkelhäutige Schweizerin. So ist es gerade einmal zwei Wochen her, als sie in Feldkirch unterwegs war, um einige Erledigungen zu tätigen. Auf dem Heimweg wurde sie am Grenzübergang in Schaanwald angehalten. Sie musste nicht nur ihre Identitätskarte zeigen, sondern gleich auch noch den Führerausweis. Als sie dem Grenzwächter ihre Papiere aushändigte und in ihrem charmanten Grabser Dialekt erklärte, dass sie nichts zu verzollen habe, reagierte dieser etwas verdutzt. «In solchen Situationen wird mir wieder bewusst, dass ich anders bin als andere Schweizer», erklärt Hollenstein. Sie werde überdurchschnittlich oft an Grenzübergängen kontrolliert, viele Menschen beginnen ein Gespräch mit ihr auf Englisch, und wenn sie dann im Dialekt antworte, sorge dies meist für ungläubiges Staunen. Es seien oft kleine Dinge, die sie merken lassen, dass viele sie mit anderen Augen sehen: «Ich werde oft gefragt, weshalb ich kein Indisch spreche oder kein scharfes Essen mag. Dann muss ich erklären, dass ich eben Schweizerin bin, Dialekt spreche und Rösti nun mal lieber mag als Curry. So einfach ist das.»
Neben all diesen kleinen, alltäglichen Kämpfen erlebt Polly Hollenstein manchmal auch ziemlich extreme Situationen, die ihr vor Augen führen, dass man als Farbige manchmal anders behandelt wird. So gab es während ihrer Tätigkeit als Gerichtsweibel auch schon eine Situation, in der ein Angeklagter sich weigerte, ihr die Hand zu geben. «Solche krassen Vorfälle sind zum Glück sehr selten. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass gewisse Menschen auch im Alltag etwas vorurteilsfreier an Farbige herantreten.» (sb)
Steckbrief
Name: Polly Hollenstein
Wohnort: Grabs
Alter: 32
Beruf: Mutter und kaufmännische Angestellte
Hobbys: Joggen und gutes Essen
Leibspeise: «Gschwellti» mit Käse
Getränk: Eistee
TV-Vorliebe: «CSI»
Musik: Rockige Sachen
Lektüre: Sachbücher
Stadt/Land? Für den Ausgang die Stadt, für die Familie das Land
Sommer/Winter? Sommer
Ort: Zu Hause im Garten
Stärke: Offenheit undLebensfreude
Schwäche: Ungeduld
Mein Wunsch für die Zukunft: «Gesundheit für meine Familie und mich»
Schlagwörter
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«Liewo-Porträt»