Der Medizinstudent mit dem Elektro-Hackbrett
Ein Hackbrett in der Disco? Eine ziemlich absurde Vorstellung – ausser man kennt den Hackbrettspieler Christian Tinner, kurz Chrigi, aus Grabs. Wer ihn einmal live in einem Club gesehen hat, weiss: es funktioniert! «Die Klänge des Hackbretts passen perfekt zu elektronischer Musik!», so Christian Tinner. Er muss es wissen, denn der langjährige Hackbrettspieler hat einiges ausprobiert: «Zu Hip-Hop, den ich früher oft gehört habe, passt es zum Beispiel nicht.» Mit dem Experimentieren begann Tinner als?Teenager: «Ich hatte keine Lust mehr, nur traditionelle Stücke zu spielen und suchte eine neue Herausforderung.»
Von Walter Alder inspiriert
Christian Tinner lernte mit sieben Jahren Hackbrett spielen. Als Kind verbrachte er seine Ferien oft mit seinen Eltern und Schwestern im Appenzellerland. Dort lernte er auch die traditionsreiche Kultur der Appenzeller kennen – und lieben. Als er eines Tages den bekannten Hackbrettspieler Walter Alder in der Nachbarschaft auftreten sah, war er so fasziniert, dass er das Spielen selbst beherrschen wollte. Da der wöchentliche Weg ins Appenzell zu weit war, verwies Alder ihn an seine talentierte Schülerin Andrea Kind aus Ruggell. Bei ihr nahm Tinner schliesslich sieben Jahre Unterricht. Um Jazz und andere, modernere Musikrichtungen zu erlernen, wechselte er zu Töbi Tobler, der mittlerweile seit über 35 Jahren hauptberuflich Hackbrett spielt. Nachdem auch er Christian Tinner nach drei Jahren nicht mehr viel Neues beibringen konnte, spielte der Jugendliche alleine weiter, komponierte eigene Stücke und probierte Neues aus.
Heidi und der Disco-Peter
Vor drei Jahren erzählte Christian Tinner einem Kollegen beim Snowboarden, dass er gerne einmal mit einem DJ zusammenarbeiten würde. Dieser stellte ihm später den damals 30-jährigen Nikolai Stolz, kurz «Nick», vor. Der DJ und Produzent aus dem St. Galler Rheintal legte seit 15 Jahren regelmässig in Ostschweizer Clubs auf. Nick und der Hackbretterspieler trafen sich im Frühjahr 2009 mit dem Ziel, gemeinsam am Buchserfest aufzutreten – das war sozusagen der Beginn einer heissen Affäre von Heidi und dem Disco-Peter: Das Duo «Hack & Nick» war geboren.
«Hack» erinnert sich: «Er hat mir eine CD von seinen Songs gebrannt und ich habe gelernt, dazu Hackbrett zu spielen – dann hatten wir bereits unseren ersten Auftritt, der sehr improvisiert und definitiv noch nicht zufriedenstellend war.» Dementsprechend sei dann auch das Feedback ausgefallen: «Die Leute fanden die Idee spitze, aber noch nicht ausgereift.» Chrigis Ehrgeiz war geweckt. «Hack & Nick» haben weitergemacht und ihre Auftritte von Mal zu Mal verbessert.
Elektro-Hackbrett entwickelt
«Der Ton des?Hackbretts überschlug sich regelmässig bei Auftritten, was mich sehr verunsicherte», erklärt Christian Tinner. Schnell erkannte er das Problem: Das Mikrofon, das er in den Resonanzkörper eingebaut hatte, nahm nicht nur den Klang des Hackbretts, sondern auch alle Nebengeräusche auf. Er befasste sich intensiver mit der Technik und überlegte sich, wie er das Problem beheben könnte. Er liess sich schliesslich von einer Schreinerei ein Stück Holz anfertigen und zog Saiten aus Stahl auf; beim klassischen Hackbrett sind sie aus Bronze. Dann setzte er einen magnetischen Tonabnehmer in das Holzstück ein, «ganz nach dem Prinzip der E-Gitarre», erzählt Chrigi und strahlt, denn seine Idee funktionierte tatsächlich: Der magnetische Tonabnehmer nahm nicht mehr die Nebengeräusche, sondern nur die Schwingungen auf und wandelte sie anschliessend in den Ton um.
Verbesserungen geplant
Christian Tinner zeigte sein Mini-Elektro-Hackbrett dem Hackbrettbauer Werner Alder, den er durch Walter Alder kennengelernt hatte. Dieser war sofort begeistert von der Idee, brachte mit seinem Know-how bautechnische Inputs ein, konstruierte die Holzbestandteile und baute das Grundgerüst. Chrigi zog anschliessend die Saiten auf und baute den Tonabnehmer ein – fertig war das erste Elektro-Hackbrett, das mittlerweile seit Frühjahr im Einsatz ist. Der stolze Erfinder des E-Hackbretts kann nun ohne Störungen über den Computer Special Effects einspielen und fühlt sich nun auf der Bühne viel sicherer. Trotzdem ist er noch nicht restlos zufrieden mit seinem modernen Instrument. «Es gibt noch zwei, drei Dinge, die man verbessern könnte. Wir werden zum Beispiel sicher noch eine Dämpfung einbauen.»
Medizinstudium nach?Beinbruch
Christian Tinner ist froh über seine Idee vom E-Hackbrett. Überbewerten möchte er seine Erfindung jedoch nicht: «Das neue Musikinstrument patentieren zu lassen, lohnt sich nicht. Selbstverständlich können Werner Alder und ich weitere Einzelstücke anfertigen, aber die Nachfrage wird kaum gross sein.» Trotzdem ist er stolz: «Wenn ich mir etwas vornehme, dann setze ich es auch um.» Der beste Beweis für seine Zielstrebigkeit ist auch sein Medizinstudium. Der 23-Jährige ist bereits im 11. Semester und absolviert gerade das obligatorische Praktikumsjahr. Er lächelt, als er die Wahl seines Studiums begründet: «Ich habe mir mit 15 Jahren das Bein gebrochen und musste es operieren lassen. Ich war so interessiert an der OP, dass man mir anschliessend die Bilder davon zeigte. Da wusste ich: Das möchte ich auch können!»
Glieder rekonstruieren
Nachdem Christian Tinner die Kantonsschule mit Schwerpunkt Wirtschaft und Recht in Sargans abgeschlossen hatte, wollte er eigentlich zuerst ein Zwischenjahr einlegen. Als er dann die Zulassungsprüfung auf Anhieb schaffte, nutzte er die Gelegenheit sofort. «Mir wurde von angesehenen Ärzten empfohlen, Medizin an der Universität Bern zu studieren», erklärt Tinner, der seine Wahl bis heute nicht bereut. Das Studium macht ihm immer noch grossen Spass. Zurzeit absolviert er die Militärarztausbildung in Moudon (VD). Es folgen Praktika auf der Herz- und Plastischen Chirurgie im Inselspital in Bern und auf der Abteilung Innere Medizin im Spital Grabs. «Auf die Plastische Chirurgie freue ich mich besonders. Mein Ziel ist es nämlich, mich auf Plastische oder Handchirurgie zu spezialisieren», erzählt Chrigi. Dabei geht es ihm weniger um Schönheitsoperationen als um die Rekonstruktionen von Gliedern, die zum Beispiel durch Verbrennungen entstellt wurden.
Kein Ende in Sicht
Um sein Studium finanzieren zu können, hält Christian Tinner nebenbei Nachtwache im Inselspital und assistiert auf der Handchirurgie im Lindenhof-Spital in Bern. Er lacht: «Von der Musik allein kann ich noch nicht leben.» Alle ein bis zwei Wochen verbringt der Student und Hackbrettspieler ein paar Tage in der Region. Dabei besucht er seine Familie und Freunde, hilft als Vereinsmitglied im Buchser Club Krempel aus und tritt als «Hack & Nick» mit seinem E-Hackbrett in angesagten Clubs wie zum Beispiel dem Selig in Chur oder dem Kaufleuten in Zürich auf. Im Juli spielten die beiden Musiker ausserdem am Kulturfestival in St. Gallen. Seine Auftritte kann Tinner nicht mehr zählen. Schon als kleiner Junge spielte er das klassische Hackbrett an Geburtstagen, Firmenfeiern, aber auch an öffentlichen Veranstaltungen – und noch heute gibt er neben «Hack und Nick» Soloauftritte vor 20 bis 1000 Zuschauern. «Mein grösster Wunsch ist es, neben der Arbeit immer Zeit für Familie, Freunde und Musik zu haben.» (hl)
Steckbrief
Name: Christian Tinner
Wohnort: Grabs/Bern
Alter: 23
Beruf: Medizinstudent, 11. Semester in Bern
Zivilstand: In einer Beziehung
Hobbys: Musik und Sport wie z. B. Skifahren, Biken, Wandern
Projekte: E(lektro)-Hackbrett, «Hack & Nick» und Solokonzerte
Leibspeise: Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti
Getränk: Grabser Hahnenwasser
Musik: Elektro: Techno, Minimal, Deep House
Lektüre: Medizinbücher und «Tages-Anzeiger»
Stadt/Land? «Mir gefällt beides, z. B. das Rheintal und New York.»
Sommer/Winter? Winter
Ort: Berge
Stärke: Zielstrebigkeit
Schwäche: Zeitmanagement
Kontakt: info@hackandnick.ch und www.hackandnick.ch
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«Liewo-Porträt»